Das Durchbrechen von Zeitbarrieren gehört zu den Höhepunkten der
Leichtathletik-Historie. Eines der einprägsamsten derartigen Ereignisse
passierte 1954 in Oxford: Roger Bannister lief die Meile als erster unter vier
Minuten. Nach 3:59,4 war der Engländer im Ziel. Andere Läufer, die
mit ihren Leistungen Leichtathletik-Geschichte schrieben, waren zum Beispiel
der Belgier Gaston Reiff, der 1949 die 3000 m unter acht Minuten lief, oder
Said Aouita, der 40 Jahre später den Weltrekord über diese Strecke
unter 7:30 Minuten drückte und zuvor schon die 5000 m unter 13 Minuten
gelaufen war. Über 10.000 m blieb der Australier Ron Clarke 1965 unter 28
Minuten, und 1993 war es der Kenianer Yobes Ondieki, der unter 27 Minuten lief.
Im Marathon lief Derek Clayton (Australien) 1967 unter 2:10 Stunden,
während es jetzt schon bald um die erste Zeit unter 2:05 Stunden gehen
wird. Beim Berlin-Marathon am Sonntag rückt eine andere Barriere in den
Blickpunkt: Es geht um die erste Zeit unter 2:20 Stunden im Frauenmarathon. In
der noch recht jungen Disziplin war es die Norwegerin Grete Waitz, die 1979 in
New York die klassische Distanz zum ersten Mal unter 2:30 Stunden gelaufen war.
Inzwischen hält die Kenianerin Tegla Loroupe die Weltbestzeit. Vor zwei
Jahren siegte sie in Berlin in 2:20:43 Stunden. Doch bei dem Versuch, als erste
unter 2:20 zu laufen ist sie bisher ebenso gescheitert wie eine Reihe
prominenter Läuferinnen vor ihr: Catherina McKiernan (Irland), Uta Pippig
(Berlin), Wanda Panfil (Polen) oder auch Ingrid Kristiansen (Norwegen) und Joan
Benoit-Samuelson (USA). Seit Mitte der 80er Jahre träumen die besten
Marathonläuferinnen von der Zeit unter 2:20 Stunden. Vor 16 Jahren gab es
dabei zum letzten Mal bei einem großen Stadtmarathon eine ähnliche
Konstellation wie jetzt in Berlin. Damals besiegte die Olympiasiegerin Joan
Benoit-Samuelson in Chicago die Weltrekordlerin Ingrid Kristiansen. Schon
damals schlugen beide ein Tempo ein, das gut gewesen wäre für eine
Zeit unter 2:20 Stunden. Am Ende siegte die Amerikanerin in 2:21:21 Stunden,
der damals zweitschnellsten Zeit.
Die Zeit ist inzwischen reif für die Traumzeit. Und zwei jener
Läuferinnen, die das Vermögen für ein solches Ergebnis haben,
starten am Sonntag in Berlin: Die Olympiasiegerin Naoko Takahashi (Japan)
trifft auf die Weltrekordlerin Tegla Loroupe (Kenia). Beide wollen die ersten
sein, die die Barriere durchbrechen. Hier geht es um viel Geld, aber um noch
mehr Prestige.
„Ich konnte in Boulder gut trainieren und bin auf einem ebenso guten
Level wie im vergangenen Jahr vor den Olympischen Spielen in Sydney“,
sagt Naoko Takahashi, die am Sonntag zum ersten Mal überhaupt in Europa
bei einem Straßenlauf startet. „Ich habe jetzt zudem das
Gefühl, endlich auf einer optimalen Strecke laufen zu können und
deswegen meine Kräfte optimal ausnutzen zu können. Ich hoffe, dass
ich in der Lage bin, den Weltrekord zu brechen“, sagt Naoko Takahashi,
die in Berlin ihren ersten Marathon nach dem Olympiasieg laufen wird. Tegla
Loroupe sagt: „Ich freue mich darauf, ein zweites Mal in Berlin laufen zu
können. Außerdem wird die eine oder andere Läuferin eine Woche
später beim Chicago-Marathon versuchen, unter 2:20 Stunden zu laufen. Ich
will versuchen, ihnen zuvor zu kommen.“
Tegla Loroupe, die zeitweilig mit anderen Läuferinnen bei ihrem
Detmolder Manager Volker Wagner wohnt und trainiert, hatte nach dem
Berlin-Marathon 1999 auch den London-Marathon 2000 gewonnen und galt bei
Olympia in Sydney als eine der großen Favoritinnen. Doch in der Nacht vor
dem Rennen litt sie unter einer Lebensmittelvergiftung. Der Traum vom
Olympiagold war aus, Tegla Loroupe lief als 13. ins Ziel. Auch danach hatte die
Kenianerin, die 1991 nach Deutschland kam, kein Glück mehr im Marathon. In
New York wollte sie sich im vergangenen November rehabilitieren. Doch mit
Krämpfen wurde sie nur Sechste. In London im April blieb Tegla Loroupe
nach fünf Kilometern plötzlich auf der Straße stehen. Aufgrund
von Muskelproblemen machte sie Dehnübungen und verlor rund eine Minute.
Doch Loroupe gab nicht auf und zeigte eine Leistung, die jener der Siegerin
nicht nachstand. Fast 30 Kilometer später hatte sie die
Führungsgruppe wieder eingeholt, doch am Ende fehlte ihr die Kraft. Platz
acht war eine neue Enttäuschung. Und auch ihre Generalprobe für den
Berlin-Marathon lief nicht nach Wunsch. Wiederum von muskulären Problemen
beeinträchtigt, wurde sie beim Halbmarathon in Newcastle vor knapp zwei
Wochen Achte. Allerdings war dies am Ende einer harten Trainingswoche. So
assistiert ihr Volker Wagner eine erstklassige Form: „Einige
Trainingswerte sind besser als vor ihrem Rekord in Berlin vor zwei Jahren. Und
wenn wir eine leichte Erkältung in den Griff bekommen, dann müsste
normalerweise ein Ergebnis unter 2:20 Stunden möglich sein.“
Über Zeiten und Trainingswerte spricht Naoko Takahashi nicht. Ihr
letztes Rennen machte sie in Ohme (Japan) über 30 km im Februar. Damals
war sie noch längst nicht in Topform, gewann aber in 1:41:57 Stunden und
hatte damit ihren Trainer Yoshio Koide überrascht, der eine um mehrere
Minuten langsameres Ergebnis erwartet hatte. „Dass Tegla Loroupe am
Sonntag im Rennen ist, finde ich gut. Ich sehe das nicht als Rivalität,
sondern als Motivation. Sie ist eine der besten Läuferinnen der
Welt“, sagt Naoko Takahashi und fügt hinzu: „Ich freue mich
auf dieses Rennen, ich will es genießen und hoffe, dass ich nach zwei
Stunden und einigen Minuten im Ziel bin – näheres möchte ich
dazu jetzt nicht sagen.“ Dennoch: es gibt Gerüchte, nach denen Naoko
Takahashi am Sonntag ein Tempo einschlagen könnte, das sie in Richtung von
2:18 Stunden führt. Seit der Goldmedaille von Sydney hat die erste
japanische Marathon-Olympiasiegerin in ihrer Heimat den Status einer
Volksheldin. Derart populär ist Naoko Takahashi, dass ihre
Lebensgeschichte sogar in dem Comicmagazin „Young Sunday“
dargestellt wird. Als Comicfigur „Kazekko“ (Die Tochter des Windes)
hat sie den Berlin-Marathon bereits gewonnen. Und wenn sie am Sonntag
tatsächlich siegt, erwarten die Herausgeber eine deutliche
Auflagensteigerung der derzeit wöchentlich 700.000 Exemplare.