Yoko Shibui war nicht zu sehen. Nach einem Interview mit dem japanischen
Fernsehsender Fuji-TV hatte sie sich im Saal, in dem die Pressekonferenzen des
real,- BERLIN-MARATHON stattfinden, auf eine Stuhlreihe gelegt. Immerhin,
eingeschlafen ist sie in der kurzen Interviewpause nicht. Mark Milde hätte
dies nicht einmal überraschen können.
Wenn der Race-Director Topathleten für den real,- BERLIN-MARATHON
verpflichtet, wird ein Fragebogen mitgeschickt, um möglichst individuellen
Wünschen der Läufer gerecht werden zu können. Bei der Rubrik
Hobbies hatte Yoko Shibui angegeben: Schlafen.
In der Regel nicht mehr als sechs Stunden“
Besonders intensiv betreibt Yoko Shibui ihr Hobby allerdings nicht. „Ich
schlafe in der Regel nicht mehr als sechs Stunden“, antwortet sie auf die
entsprechende Frage. Am Sonntag wird sie hellwach sein. Denn dann startet Yoko
Shibui als große Favoritin beim real,- BERLIN-MARATHON. Sie soll nicht
nur für sich selbst gewinnen sondern auch für Japan. Es gilt für
Nippons Frauen eine Siegserie fortzusetzen. Seit dem Jahr 2000 war die erste
Läuferin im Ziel stets eine Japanerin. Höhepunkt war dabei der
Weltrekord von Naoko Takahashi, die 2001 als erste Frau unter 2:20 Stunden lief
(2:19:46).
Inzwischen steht der Weltrekord der Britin Paula Radcliffe bereits bei
2:15:25 Stunden. Doch der Respekt gegenüber der schnellen Berliner Strecke
– in Berlin wurden in den letzten sechs Jahren gleich vier Weltrekorde
aufgestellt – ist groß bei den Organisatoren anderer
Marathonrennen.
Als der frühere Race-Director Horst Milde kürzlich den Chef des
London-Marathons, Nick Bitel, traf, gab dieser ihm noch mit auf den Weg, doch
bitte am Sonntag den Frauen-Weltrekord nicht zu brechen. Paula Radcliffe lief
diesen nämlich in London. Und die Londoner hatten im vergangenen Jahr
bereits ihren Männer-Weltrekord and die Berliner verloren.
In China im Höhentraining
Eine Zeit im Bereich von Paula Radcliffe ist am Sonntag jedoch auch für
Yoko Shibui außer Reichweite. Dennoch, sie weiß, warum sie sich den
rreal,- BERLIN-MARATHON und nicht das Rennen in Chicago, wo sie in zwei Wochen
sicherlich mehr Geld hätte verdienen können, ausgesucht hat.
„Es ist ein flacher und einfach zu laufender Kurs – ich hoffe, dass
ich eine sehr gute Zeit laufen kann“, erklärte Yoko Shibui, die sich
in China im Höhentraining für den real,- BERLIN-MARATHON
vorbereitete.
Das Ziel der 25-Jährigen ist zumindest der Streckenrekord ihrer Landsfrau
Naoko Takahashi, der zugleich auch Landesrekord bedeuten würde. Und noch
eine prestigeträchtige Marke ist nur wenige Sekunden weit weg. Im
vergangenen Jahr verloren die Japanerinnen den Asienrekord an die Chinesin
Yingjie Sun (2:19:39).
Nicht in die Bereiche von Paula Radcliffe
„Es wäre toll und es ist durchaus möglich, dass Yoko Shibui am
Sonntag in Berlin Rekord läuft“, erklärt ihr Trainer Hideo
Suzuki und fügt hinzu: „Aber in die Bereiche von Paula Radcliffe
kann sie zurzeit noch nicht vordringen – vielleicht gelingt ihr das in
einigen Jahren, wenn sie weiter konzentriert und problemlos trainieren
kann.“
Noch hat Yoko Shibui, die hinter Takahashi und der Olympiasiegerin von
Athen, Mizuki Noguchi, die drittschnellste japanische Marathonläuferin
ist, eine Bestzeit von 2:21:22 Stunden. Dieses Ergebnis erzielte sie als Dritte
beim Chicago-Marathon 2002, nachdem sie bereits vor vier Jahren ihr Debüt
in Osaka in 2:23:11 gewonnen hatte – es war damals die schnellste
Marathon-Premiere einer Frau aller Zeiten.
In Japan mehr Menschen vor dem Fernseher als in
Deutschland
So berühmt wie Naoko Takahashi, die 2000 in Sydney Olympiasiegerin wurde,
oder Mizuki Noguchi ist Yoko Shibui im laufsport-verrückten Japan
allerdings nicht. „Noch bin ich eine ganz normale Person in Japan. Wenn
ich aber in Berlin am Sonntag unter 2:20 Stunden renne, dann könnte sich
das ändern.“ In ihrer Heimat werden voraussichtlich mehr Menschen
vor dem Fernseher den real,- BERLIN-MARATHON verfolgen als in Deutschland. Der
Lauf wird zum wiederholten Male von Fuji TV live zu einer Top-Sendezeit am
frühen Abend übertragen. Ob sie den real,- BERLIN-MARATHON selbst
schon einmal in Japan im Fernsehen gesehen hat? „Ja, im vergangenen Jahr
– allerdings bin ich dabei eingeschlafen“, erklärte Shibui und
fügte hinzu: „Also vielleicht schlafe ich doch etwas mehr als sechs
Stunden am Tag.“
Akribische Vorbereitungen
Die Vorbereitung für den real,- BERLIN-MARATHON ist noch in den letzten
Tagen akribisch. Vor einigen Tagen lief ein Japaner mit einer Art Handrad durch
den Tiergarten. Es war Shibuis Trainer Hideo Suzuki, der Trainingsstrecken
für seine Athletin genau vermaß. Irgendwann landete er auf der
John-Foster-Dulles-Allee im Gegenverkehr und es kam ein Bus. Doch Suzuki wich
nicht aus. Der Bus musste einen Bogen um ihn machen.