Wilson Kipsang gehört seit seinem Debüt vor sieben Jahren zum Marathon-Establishment. Von 17 Rennen hat er neun gewonnen, darunter die Marathons von New York, London, Tokio, Berlin und Frankfurt. Er beendete die Marathon Majors-Serie 2013/14 an der Spitze und war ein Jahr lang Weltrekordinhaber, bevor Dennis Kimetto, auch er in Berlin, die Marke im September 2014 auf die noch immer gültigen 2:02:57 Stunden drückte. Wilson Kipsang ist der einzige Läufer, der viermal unter 2:04 Stunden blieb – und das in einer Zeitspanne von dreieinhalb Jahren (zwischen 2013 und 2017).
Ganz makellos ist seine Bilanz aber doch nicht: Nur eine Bronzemedaille an einem internationalen Wettbewerb (Olympische Spiele 2012 in London) ist für einen Athleten seines Kalibers ein bisschen wenig; bei der WM vor zwei Jahren in Peking gab er auf, zum ersten und einzigen Mal überhaupt. Bei dieser einen Medaille wird es wohl bleiben, denn für die letzten Jahre seiner Karriere hat der 35-Jährige andere Ziele. «Von den sechs Marathon-Majors fehlen mir Boston und Chicago; die will ich noch gewinnen», sagt der redselige Kenianer, bevor er auf sein vorrangiges Ziel zu sprechen kommt: «Ich möchte als einer der Läufer in die Geschichte eingehen, die zweimal den Weltrekord im Marathon verbessert haben.“ Zuletzt war das Haile Gebrselassie vor neun Jahren gelungen.
Kipsang ist sich durchaus bewusst, dass er, wenn er dieses große Ziel erreichen will, nicht nur Kenenisa Bekele, sondern auch den Olympiasieger und wohl besten Marathonläufer aller Zeiten hinter sich lassen muss. Keine Angst vor Eliud Kipchoge? «Respekt ja, Angst nein. Was Eliud in den letzten Jahren zustande gebracht hat, ist phänomenal. Ich denke dabei vor allem an all seine Siege, weniger an das Breaking2-Projekt in Monza. Die 2:00:25 Stunden waren stark, aber ich bin der Meinung, das ganze Setting vom flachen Rundkurs über die wechselnden Tempomacher bis zur Getränkeabgabe hat bestimmt zwei Minuten ausgemacht. «Wenn du dir die Trinkflaschen immer selbst holen musst, verlierst du allein schon eine halbe Minute. Mit den gleichen Hilfen würde ich mir auch eine solche Zeit zutrauen.»
Wilson Kipsangs Karriere begann sehr spät. Nach der Oberschule arbeitete er zuerst drei Jahre lang als Vertreter für landwirtschaftliche Produkte, mit Laufen hatte er nichts am Hut. Das änderte sich erst, als er am Fernseher sah, wie Paul Tergat 2003 in Berlin Weltrekord lief. «Das hat mich so fasziniert und inspiriert, dass ich beschloss, es auch zu versuchen», erzählt er. Schon bald gewann er lokale Rennen. Nun wurde die Polizei auf ihn aufmerksam, in Kenia neben der Armee der wichtigste Arbeitgeber für Läufer, weil die Präsenzzeit sehr gering ist und für Training gute Coaches zur Verfügung stehen. Seine ersten Auslandstarts im Jahre 2007 waren beeindruckend: 46:27 Minuten über 10 Meilen und 27:51 über 10 Kilometer. Zwei Jahre später lief er den Halbmarathon als fünfter Mensch unter 59 Minuten. Nun war er bereit für den Marathon – und wie: im zweiten Anlauf unter 2:05 Stunden, im vierten unter 2:04 und im neunten der Weltrekord.
Kipsang meint, dass nach einer Durchgangszeit von 61 Minuten in Berlin eine Schlusszeit im Bereich von 2:02:20 bis 2:02:10 möglich ist, vorausgesetzt, das Wetter spielt mit und die Tempomacher sind besser als vor einem Jahr. «Da war der letzte schon nach 27 Kilometern draußen, und von da an lag die Führungsarbeit fast ausschließlich an mir. Hätte Bekele mitgeholfen, hätte es einen Weltrekord gegeben, aber er zog es vor, die meiste Zeit hinter mir zu laufen und so Kraft für den Endkampf zu sparen. Als er einen Kilometer vor dem Ziel beschleunigte, konnte ich nicht mehr reagieren. Mit Eliud werde ich besser zusammenarbeiten können.»
Und was bringt ihn dazu, in Berlin nochmals eine Steigerung zu erwarten? Seit Carlos Lopes, der 1984 sogar schon 38 war, hat nur ein einziger Läufer den Weltrekord im Alter von über 35 noch verbessert: Haile Gebrselassie. Wilson Kipsang überlegt nicht lange: «Erstens habe ich erst mit 22 mit einem Lauftraining begonnen und zweitens hab ich im Training ein paar Anpassungen vorgenommen, die sich nun in Berlin auswirken sollten.» Er hat den wöchentlichen Trainingsumfang von 180 auf 160 Kilometer heruntergefahren und dafür mehr in die Schnelligkeit investiert, in Tempoläufe, Fahrtspiel und Bahntraining. Und mit einem Augenzwinkern fügt er an: «Zudem hat Adidas das Modell adizero sub2 seit meinem Sieg in Tokio weiter verbessert.»
Wie gewohnt hat sich der vierfache Familienvater in Iten auf Berlin vorbereitet. Im 2.400 m über dem Meer gelegenen Ort, der sich recht unbescheiden, aber zurecht «The Home of the Champions» nennt, ist er sein eigener Coach und gleichzeitig Chef von etwa 20 Läufern, die ihm, dem Meister, vertrauen und hoffen, einmal in seine großen Fußstapfen treten zu können. Der Italiener Renato Canova gibt ihm ab und zu Tipps, mehr nicht. Seine Kollegen von Volare Sports, dem niederländischen Management, leben und trainieren unter der Woche in einem kleinen Nest, das Kapngetuny heisst, aber Kipsang sagt: «Das wäre nichts für mich. In Iten habe ich meine Familie und mein Hotel, das Keelu Resort. Von da aus kann ich meine verschiedenen Geschäfte besser koordinieren. Ich bin diszipliniert genug, dass das Training nie darunter leidet. Meine Motivation ist nach wie vor riesig. Ich habe noch lange nicht genug.»
Jürg Wirz, Eldoret/Kenia
Fakten zu Wilson Kipsang:
Geboren:
15. März 1982
Grösse/Gewicht:
1,82 m/62 kg
Wohnort:
Iten, zusammen mit seiner Frau und den vier Kindern
Coach:
selbst
Größte Erfolge
2010: 3. Paris (2:07:13) und 1. Frankfurt (2:04:57 SR); 2011: 1. Lake Biwa (2:06:13 SR) und 1. Frankfurt (2:03:42 SR); 2012: 1. London (2:04:44), 3. OS London (2:09:37) und 1. Honolulu (2:12:31); 2013: 5. London (2:07:47) und 1. Berlin (2:03:23 WR); 2014: 1. London (2:04:29 SR) und 1. New York (2:10:59); 2015: 2. London (2:04:47), DNF WM Peking, 4. New York (2:12:45); 2016: 5. London (2:07:52), 2. Berlin; 2017: 1. Tokyo (2:03:58 SR); 9 Siege in 17 Marathons. – Sieger World Marathon Majors-Serie 2013/14. – Durchschnitt der besten vier Marathons: 2:03:34 h.
Bestzeiten:
5000 m: 13:55,7A (2009), 10 000 m: 28:37,0A (2007), Strasse, 10 km: 27:32 (2008), 15 km: 41:35 (2009), 20 km: 56:10 (2012), Halbmarathon: 58:59 (2009), 30 km: 1:27:26 (2016), Marathon: 2:03:13 (2016).
SR = Streckenrekord, WR = Weltrekord, OS = Olympische Spiele, A = Altitude (in der Höhe)