Wer kann die Erfolgsserie des dreifachen Berglauf-Weltmeisters Jonathan Wyatt
noch stoppen? Diese Frage muss sich die internationale Berglauf-Elite stellen,
nachdem der Neuseeländer seit seiner Ankunft auf europäischem Boden
neben den Grand-Prix-Rennen am Großglockner und im Stubaital noch die
Bergläufe am Karwendel in Mittenwald und in Linz mit zumeist neuen
Streckenrekorden gewinnen konnte. Den jüngsten Coup lieferte Jonathan
Wyatt, der übrigens mit 27:56 über 10 000 m, 1:02:36 über
Halbmarathon und 2:13:00 über die Marathondistanz exzellente
“Flachdistanz“-Bestmarken“ aufzuweisen hat, nun beim
über 31 km führenden Berglauf-Klassiker “Course des Cinq
4000“ von Sierre nach Zinal im Schweizer Wallis ab. In einem Temporennen
par excellence konnte er nicht nur neun Minuten Vorsprung vor dem britischen
Topläufer Billy Burns herauslaufen, sondern auch den seit 2001 bestehenden
Streckenrekord des Mexikaners Ricardo Mejia um fast zwei Minuten auf nunmehr
2:29:12 Stunden zu steigern. Wyatt krönte letztlich mit diesem Rekordlauf
die dreißigste Auflage des Berglauf-Klassikers, die mit fast dreitausend
Startern einmal mehr eine Spitzenbeteiligung aufzuweisen hatte. Dreitausend
Leute jubelten mit “standing ovations“ minutenlang im vollbesetzten
Festzelt Jonathan Wyatt zu, als er vom “Course des Cinq 4000“-Chef
Jean-Claude Pont als großartiger Sieger 2003 präsentiert wurde.
Das Jubiläum ließen sich die Verantwortlichen um den an der
Genfer Universität lehrenden Mathematik-Professor Jean-Claude Pont vor Ort
einiges kosten. So krönte der französische Chansonier Salvadore Adamo
die Jubiläumswoche vor dem großartigen Laufereignis im ausverkauften
Festzelt in Zinal. Eine tolle Geste übrigens auch, möglichst viele
der früheren Sieger am Vortage auf der 2 441 m hohen Sorebois-Bergstation
zu Tisch zu bitten. Im illustren Kreis versammelten sich somit insgesamt mit
Pablo Vigil (USA), Pierre-André Gobet (Schweiz), Jairo Correa, Francisco
Sanchez, Jairo Lopez (alle Kolumbien), Ricardo Mejia (Mexiko), Billy Burns
(Groß-Britannien) sowie dem auf der wegen starker Schneefälle im
Vorjahr siegreichen Jonathan Wyatt bei den Männern sowie Svetlana
Netchaeva (Russland) bei den Frauen neun Cracks mit insgesamt achtzehn
Siegen.
Das Geheimnis von Sierre-Zinal
Was ist nun das Geheimnis von Sierre-Zinal? Der viermalige Sieger Pablo
Vigil, einst einer der erfolgreichen, großen Weltenbummler in Sachen
Berglauf, heute 51jährig, Vater dreier Kinder und Grundschullehrer
für Spanisch und Englisch, muss dazu kräftig ausholen, um die
wesentlichen Argumente auf den Punkt zu bringen: “Als ich 1979 zum ersten
Mal nach Europa und damit die Schweiz kam, war es wie im Traum. Die Berge mit
ihrer Eleganz und Schönheit, aber auch den langgezogenen Steigungen waren
völlig anders als bei uns zuhause in Colorado. Und Sierre-Zinal war
einfach so verrückt, eine Strecke zum Sterben schön. Die Leute, die
Kultur, das Essen und viele andere angenehme Sachen, Zinal hat mir eine neue
Welt eröffnet!“ Pierre-André Gobet, zweifacher Sieger in den
Jahren 1988 und 1989, lebt nahe Bulle im Wallis und ist als Gebietsmanager
für eine europaweit operierende Firma im Medizinischen Gerätebau
häufig unterwegs, beschrieb den Stellenwert ähnlich treffend:
“Es ist etwas besonderes. Vielleicht wie Rom für die Katholiken,
Mekka für die Moslems oder auf dem Gebiet des Sports Paris-Roubaix
für den Radprofi ist Sierre-Zinal der Lauf für den Bergläufer!
Die Strecke bietet einfach alles, eine Strecke zum Leben. Hier gewinnt keiner
durch Zufall, du musst schon Topläufer sein, um vorne zu sein!“ Der
Schweizer Laufveteran Albrecht Moser, neunundzwanzig Male am Start bei
Sierre-Zinal (lediglich bei der Premiere musste er passen, da er für die
Eidgenossen im Länderkampf-Trikot 10 000 m lief), brachte es auf seine Art
auf den Punkt: “Sierre-Zinal ist mehr als ein Lauf. Jeder flucht im Ziel,
weil die Beine schmerzen, aber sie kommen alle wieder. Es ist eine
Krankheit!“ Das journalistische Urgestein Yves Jeannotat kennt sie alle,
die großen Läufe der Szene, weltweit. Sein Urteil hat nicht nur in
der französisch-sprachigen Westschweiz Gewicht: “Es ist der erste
Lauf über lange Distanzen gewesen. Selbst Asse wie Thompson oder Roelants
sind noch während ihrer Hochzeit hierher gekommen und haben die einmalige
Atmosphäre genossen. Es ist eine Synthese zwischen Normal und Extrem. Wenn
dieser Lauf heute geschaffen werden würde, er hätte keine Chance
mehr. Tradition kann man nicht durch andere Komponenten wettmachen!“
Wyatt: “Jungfrau-Marathon wird die
Challenge!“
Für Jonathan Wyatt, der die Bergabpassagen nur höchst ungern
läuft, ist Sierre-Zinal dennoch eine Herausforderung der besonderen Art
geworden, auch wenn er fast 1000 Höhenmeter bergab laufen muss. “Ich
muss zugeben, dass es mich überrascht hat, ohne Probleme einen so klaren
Vorsprung herauslaufen zu können. Bergab habe ich mich geschont, auch wenn
ich dadurch etwas Zeit eingebüßt habe!“ Der Neuseeländer,
der wegen des Bergauf-Bergab-Charakters heuer keinen Start beim Weltchampionat
nahe Anchorage eingeplant hat, ist für die internationale Anerkennung des
Berglaufens ein entscheidender Sympathieträger. Nach den Grand-Prix-Rennen
in Susa und Zermatt plant er allerdings schon in wenigen Wochen den
nächsten Coup: Beim großartigen Jungfrau-Marathon wird er am 6.
September gegen den Weltklasse-Marathonmann und dem im Vorjahr in
Streckenrekordzeit siegenden Äthiopier Tesfaye Eticha treffen. “Das
wird eine echte Challenge. Der Streckenrekord wird dabei sicherlich
fallen!“
Ex-Radprofi Charriere überrascht als Vierter die
Spezialisten! Doch zurück zum Jubiläum des Klassikers
Sierre-Zinal. Hinter Wyatt, der zeitweise mit mehr als vier Minuten unter der
Streckenbestmarke lief, attackierten sich die Großen der Szene. Billy
Burns gewann letztlich das spannende Duell mit dem entthronten Streckenbesten
Mejia, dem früheren Jungfrau-Marathon-Sieger Maati el Chaam, dem
Graubünden-Marathon-Sieger Martin Cox, dem früheren
Berglauf-Weltmeister Lucio Fregona oder den laufstarken Äthiopiern Fikadou
Bekele oder dem Davoser K 42-Sieger Dissassa Dabessa. Gegen diesen Showdown der
männlichen Cracks verblasste freilich das Rennen der Frauen, bei denen die
ebenfalls in Davos schon über die Marathondistanz erfolgreiche Tsiege
Worku einen hauchdünnen Sieg gegen die überraschend stark
auftrumpfende Angeline Joly aus dem Jura landen konnte.
Überraschend hingegen das Comeback der inzwischen in Zinal lebenden
Isabella Crettenand-Moretti auf Rang vier der Frauen-Gesamtwertung.
Zwillingsschwester Christine hingegen versuchte sich im
“Touristenlauf“, der dreieinhalb Stunden zuvor gestartet wurde, mit
Erfolg als Kategorienerste. Überhaupt zeigten sich die Schweizer auf
ureigenem Terrain in guter Form. Während allesamt der aus dem nur sechs
Kilometer von Zinal entfernten Ayer als Lokalmatador als Geheimfavorit auf den
Titel “Bester Schweizer“ gehandelt wurde, wuchs Christian Charriere
mit der Startnummer 636 weit über sich hinaus und holte sich als Vierter
sogar noch ein stattliches Preisgeld. Der 28jährige aus Vaulruz ist
allenfalls als Radprofi ein Begriff. Doch – ohne Anstellung in einem der
finanzkräftigen Rennställe lässt es sich auch in der Schweiz
nicht mehr anständig überleben, so dass die Geländelaufvariante
aus der Abteilung Kraftausdauer eine durchaus erfolgsversprechende Alternative
sein kann. 700 Schweizer Franken gab es auf dem Podium in Zinal schon
einmal....
Wilfried Raatz
30. Course des Cinq 4000/ Sierre-Zinal (10.8./ Länge : 31,0 km/ HD
+2000/-1000 m) :
Männer : 1. Wyatt (Nzl) 2 :29 :12, 2. Burns (Gbr) 2:38:24, 3. El Chaam
(Mar) 2:41:16, 4. Mejia (Mex) 2:41:43, 6. Epiney (Sui) 2:42:01, 7. Ancay (Sui)
2:42:03, 8. Fregona (Ita) 2:43:04, 9. Low (USA) 2:43:51, 10. Brown (Gbr)
2:45:28, 11. Padua (Col) 2:47:14, 12. Bekele (Eth) 2:50:38, 13. Masserey (Sui)
2:50:34, 14. Dabessa (Eth) 2:51:57, 15. Vaudan (Sui) 2:52:29, 16. Mucheru (Ken)
2:52:48, 17. Colomer (Esp) 2:53:41, 18. Cox (Gbr) 2:55:19, 19. Sanchez (Col)
2:55:30, 20. Hänni (Sui) 2 :56 :03….. 44. Frei (Ger/ Freiburg)
3:09:03, 200. Hofmann (Ger/ Pfungstadt) 3:52:31, 219. Bohsmann (Ger/ Dettingen)
3:55:48, 239. Berger (Ger/ Bayreuth) 3:59:15, 264. Zöller (Ger/
Hösbach) 4:03:13, 267. Jokisch (Ger/ Darmstadt) 4:03:24, 301. Philippen
(Ger/ Selfkant) 4:09:18, 336. Heitzenröder (Ger/ Reinheim) 4:15:53.
Frauen: 1. Worku (Eth) 3:16:07, 2. Joly (Sui) 3:17:08, 3. Etzensperger (Sui)
3:20:22, 4. Crettenand-Moretti (Sui) 3:22:22, 5. Leserboiser (Fra) 3:22:49, 6.
Capt (Sui) 3:27:26, 7. Defrancesco (Sui) 3:39:24, 8. Raeber-Burgdorfer (Sui)
3:40:26, 9. Borcard (Sui) 3:40:48, 10. Lusk (USA) 3:41:23…. 14. B.
Stinner (Ger/ Wissen) 3:48:17, 29. K. Stinner (Ger/ Wissen) 4:09:52, 67. Dir
(Ger/ Freiburg) 4:57:02.
Weitere Resultate unter www. Datasport.com oder www.sierre-zinal.com