Laufen boomt in Deutschland wie kaum eine andere Sportart: Über 16
Millionen Jogger sorgen für immer neue Teilnehmerrekorde bei den
großen Rennen, und zugleich entstehen mehr und mehr Laufveranstaltungen.
Ende März hatte zum Beispiel der Freiburg-Marathon eine Premiere mit rund
9.000 Teilnehmern. Für den spektakulärsten deutschen
Straßenlauf, den 31. real,- BERLIN-MARATHON am 26. September, liegen
bereits jetzt über 20.000 Anmeldungen vor. Das Limit legt bei 35.000. Doch
der Laufboom beschränkt sich in Deutschland auf die Breite, die deutschen
Topläufer können schon lange nicht mehr Schritt halten.
Im internationalen Vergleich sind die Männer im Marathon nicht einmal
mehr zweitklassig. 2003 schafften es nur zwei Deutsche, einige Sekunden
schneller zu laufen als die beste Frau der Welt: Die Engländerin Paula
Radcliffe hatte beim London-Marathon mit 2:15:25 Stunden einen Weltrekord
aufgestellt. So ist es kein Wunder, dass nun auch kein deutscher Läufer
die Marathonnorm für die Olympischen Spiele unterboten hat. Wer in Athen
dabei sein wollte, musste mindestens 2:11:00 Stunden rennen. In
Großbritannien ist u.a. die Qualifikationszeit der britischen Männer
für Athen 2:15:00.
Deutschen Läufern wird vorgehalten, zu wenig Bereitschaft für ein
hartes und umfangreiches Training zu haben, das auch mit einer entsprechenden
Lebensweise gekoppelt werden muss. Das ist wohl tatsächlich der Hauptgrund
für die schwachen Leistungen. Doch auch die Rahmenbedingungen für ein
derartiges Leben waren für deutsche Langstreckenläufer seit der Wende
selten optimal. Und hinzu kam, dass auch in der Saisongestaltung, in die auch
der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) Einfluss hat, Fehler gemacht wurden.
So spielt der Crosslauf, in vielen anderen Ländern eine unentbehrliche
Trainingskomponente, in Deutschland seit Jahren keine Rolle mehr. Initiativen
der früheren Bundestrainerin Isabelle Baumann sind längst im Sande
verlaufen. Bei der Cross-WM im März schickte der DLV gerade einmal eine
einzige Starterin ins Nachbarland nach Brüssel, wohin beispielsweise die
USA mit über 40 Läufern reiste. Das wurde schon von vielen heftig
kritisiert, auch an dieser Stelle: http://www.berlin-marathon.com/news/show/001874
Viele Aspekte spielen also eine Rolle, wenn es um die schwachen deutschen
Läufer geht. Und in einer Zeit der immer größer werdenden
Konkurrenz, vor allen durch afrikanische Läufer, wird man auf absehbare
Zeit von Erfolgen wie von Stephan Freigang vor zwölf Jahren nur
träumen können. Der damalige Cottbuser wurde 1992 sensationell
Olympiadritter in Barcelona.
Es ist Stephan Freigang, der am 2. Mai beim Hannover-Marathon in 2:14:02
Stunden bei schlechten Wetterbedingungen Deutscher Marathon-Meister wurde.
Für den früheren Cottbuser, der inzwischen für den SC DHfK
Leipzig startet, war dies ein klarer Aufwärtstrend, denn eine solche Zeit
hatte der 36-Jährige seit 1999 nicht mehr erreicht. Obwohl klar ist, dass
Freigang in Athen keine Chance hätte auf eine vordere Platzierung, hofft
er dennoch auf eine Nominierung und erhält dabei Unterstützung.
Der Marathon-Bundestrainer Wolfgang Heinig erklärte vor kurzem, er
würde den besten Deutschen nach Athen schicken. Sein Vorgänger
Winfried Aufenanger, der auch 1992 im Amt war, verlangt dies sogar: „Der
Laufsport hat in den letzten Jahren enorm zugenommen – armes Deutschland,
wenn man dann den besten Deutschen nicht nach Athen schickt“,
erklärte er gegenüber dem Fachblatt „Leichtathletik“.
Doch Rüdiger Nickel, beim DLV als Vizepräsident für
Leistungssport zuständig, macht Freigang wenig Hoffnung: "Was
zählt, ist die erweiterte Endkampfchance, also eine Platzierung unter den
ersten 16. Danach richtet sich die Norm. Wir werden sicherlich alle Fälle
diskutieren, aber es wird andere Athleten in anderen Disziplinen geben, die
dichter dran sind", erklärte Nickel, der den Laufboom und die
Symbolik einer solchen Nominierung nicht gelten lassen will.
Darüber wiederum ärgern sich andere. Horst Milde spricht für
die Basis des Laufsports in Deutschland. Der jahrzehntelange Race-Director des
BERLIN-MARATHON ist zweiter Sprecher der German Road Races (GRR) und sitzt im
Direktorium des internationalen Straßenlaufverbandes AIMS. „Ich
empfinde als beschämend, wenn wir Stephan Freigang im Marathon nicht
starten lassen. Das konterkariert die gesamte Laufentwicklung in Deutschland.
Wir brauchen Vorbilder, selbst wenn sie nicht ganz vorne rennen“,
erklärt Horst Milde.
Historisch wäre es fast schon ein Novum, wenn kein deutscher
Läufer beim olympischen Männer-Marathon an den Start ginge. In
Stockholm 1912 war das zum letzten Mal der Fall, sieht man von jenen Spielen
ab, bei denen aus politischen Gründen keine deutsche Mannschaft dabei
war.
Bei den Frauen sieht es zwar etwas besser aus, doch eine vordere Platzierung
erscheint in Athen ebenfalls ausgeschlossen. Die vergleichsweise zu den
Männern schwächere Norm von 2:30 Stunden hat Luminita Zaituc (LG
Braunschweig) erfüllt. Außerdem qualifizierte sich Ulrike Maisch
(LAV Rostock) mit ihrem 20. Platz beim WM-Marathon von Paris 2003. Sonja Oberem
(Bayer Leverkusen) hat am kommenden Sonntag beim Wien-Marathon noch eine letzte
Qualifikationschance. Sie müsste nach überstandener Muskelverletzung
die Norm unterbieten, um in Athen dabei zu sein.