Von Harald Martenstein, (Marathon)
"DER TAGESSPIEGEL", Mittwoch, 11 August 2004 / Nr. 18 563 - Seite
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Böse Männer packen dich. Böse Männer stecken deinen Kopf
unter ein dickes Frotteehandtuch. Unter dem Handtuch musst du heißen
Dampf inhalieren, während sie dir gleichzeitig warme Wadenwickel
verabreichen. Ungefähr so ist das Gefühl, im August in Athen
anzukommen, der Olympiastadt. Und bei diesem Wetter wollen die Sport
treiben?
Am härtesten ist der Marathonlauf. Er wird in den
frühen Abendstunden gestartet. Am 22. August laufen die Frauen, am 29. die
Männer. Jetzt denkt man: am Abend, halb so schlimm. Am Abend, wenn die
Sonne sich senkt, öffnet man zum Beispiel im Hotel „Marathon
Beach“ erleichtert die Balkontür. Eine schwarze Wolke fliegt hinein,
dicker als der Nebel von London, beinahe zähflüssig.
Dies sind die Moskitos von Marathon. Marathon liegt in der Nähe eines
Sumpfgebietes. Die Moskitos kommen immer am Abend und stets zahlreich. Sie
freuen sich auf Olympia.
vspace="5" />Die Menschen des Städtchens Marathon dagegen sind für
ihre Freundlichkeit bekannt. In den Reiseberichten findet sich nur eine einzige
Schilderung von Fremdenfeindlichkeit. Kurz vor einem Lauf im Jahre 1906
bestellte ein Schwede in der damals einzigen Taverne ein gekochtes Ei. Der Wirt
brachte statt dessen ein Glas Wein. Der Schwede versuchte, seinen Wunsch in
Zeichensprache auszudrücken. Nach Ansicht des Wirtes gab ihm der Gast zu
verstehen, er, der Wirt, rieche wie die Exkremente eines Huhnes. Er leerte das
Weinglas über dem Kopf des Athleten. Dergleichen ist aber seitdem nie
wieder vorgekommen.
Marathon hat 5500 Einwohner, hier in der Gegend passiert
durchschnittlich nur alle 831 Jahre etwas von weltweiter Bedeutung. In den
letzten Jahren: 490 vor Christus die Schlacht von Marathon, 1896 Olympische
Spiele, Start des Marathonlaufes, 2004 erneut Olympische
Spiele.
Der Startpunkt liegt gleich hinter der Hauptstraße, dort, wo der neue
Souvenirshop steht. Man hat ein kleines Stadion gebaut, einen Parkplatz und ein
Tor. Neben dem Eingang grasen Ziegen. Drei Polizistinnen halten
Wache.
Frage: Das etwas größere Gebäude da hinten, was ist das? Die
Polizistinnen: „I don`t know. No Fotos allowed. Go away.“ Niemand
sagt mehr irgendwas, Informationssperre. Überall stehen bewaffnete Posten.
Wenn man mit Leuten redet, kommen sie alle irgendwann auf die Angst zu
sprechen. Terrorismus. Die Furcht vor Terrorismus liegt schwer über diesen
letzten Tagen vor dem Beginn der Spiele.
Auf dem Markplatz von Marathon flattern leere Zementsäcke umher.
Überall wird noch gearbeitet, obwohl man die Zeit bis zur Eröffnung
der Spiele inzwischen in Stunden rechnen kann. Ein Mann in einer Bar sagt:
„Wir Griechen machen immer alles im letzten Moment. Das ist unsere
Mentalität. Die anderen glauben, wir schaffen es nie, aber dann klappt
alles wunderbar. Bei euch Deutschen ist es genau umgekehrt, habe ich
gehört.“ Die meisten Arbeiter sind allerdings dunkelhäutig.
Viele Pakistaner.
Eine ältere Frau erzählt: „1896 hat die Polizei in Athen
sich vor den Spielen auch große Sorgen gemacht. Sie sind in die
Gefängnisse gegangen, zu den Dieben und Einbrechern und Betrügern.
Sie haben gesagt, wir lassen euch frei, während der Spiele habt ihr
Urlaub. Aber ihr müsst versprechen, dass ihr nicht nur selber nichts
anstellt, sondern dass ihr auch auf die zugereisten Diebe und Betrüger
aufpasst. Ihr kennt ihre Tricks am besten.“ Es seien, erzählt die
Frau, damals viele Diebe aus der Türkei angereist, die Türken kenne
man ja, aber die griechischen Diebe hätten dafür gesorgt, dass nichts
passierte. Leider sei diese Methode gegen Terroristen nicht
anwendbar.
Die Hinterlist der Griechen besiegt die List der
Perser
Im Jahre 490 vor Christus begegneten sich in der sumpfigen Ebene von Marathon
das Heer der Perser und das Heer der Athener. Für die Perser, die
Supermacht jener Epoche, waren 25 000 Mann aufmarschiert, für die Athener
vielleicht 8000. Die Griechen sind Außenseiter gewesen,
ähnlich wie bei der Fußball-EM.
Zum ersten Mal hatten sie ihre Sklaven bewaffnet, sonst hätten sie
nicht einmal diese Soldatenzahl erreicht. Die Schlacht von Marathon
begründet einen Mythos, der seitdem in der Geschichte Europas immer wieder
auftaucht:
Der Angriff aus dem Osten. Ein scheinbar unbesiegbares, angeblich besonders
grausames Volk aus dem Osten bedroht die westliche Zivilisation, wie durch ein
Wunder wird es dann doch zurückgeschlagen. Es sind die Perser, die Hunnen,
die Mongolen, die Araber oder die Türken. Im Kern immer die gleiche
Geschichte.
Die Schlacht von Marathon, die erste Schlacht zwischen Europa und dem Orient,
beginnt an einem 11. September.
Die persischen Generäle haben sich eine List einfallen lassen. Jetzt, wo
die Athener schwer gepanzert vor ihnen stehen, möchten die Perser
schnellstens wieder zurück in ihre Galeeren, um die Halbinsel Attika
herumsegeln und die nahezu schutzlose Stadt Athen fast ohne Verluste einnehmen.
Mit den Schiffen müssten sie schneller dort sein als das Heer der
Griechen.
Aber die Griechen – Überraschung! - greifen trotz ihrer geringen
Zahl an. Und ihr Angriff beginnt in genau dem Moment, als die Reiterei, der
gefährlichste Teil der persischen Streitmacht, bereits auf die Boote
verladen ist. Die Griechen marschieren auf ihre Feinde zu, und als sie noch
etwa 150 Meter von ihnen entfernt sind, beginnen sie zu
rennen, um den Bogenschützen kein ganz so einfaches Ziel zu
bieten. Das gab es noch nie. Es war üblich, langsam, mutig und mannhaft
auf die feindlichen Bogenschützen zuzugehen, und sich in großer Zahl
totschießen zu lassen.
"panisch"
Nach einer Stunde ist die Schlacht entschieden. Es heißt, der Gott
Pan habe auf griechischer Seite mitgekämpft und die
Perser in Angst versetzt. Daher kommt das Wort „panisch“. Wenn die
Perser an jenem 11. September gewonnen hätten, dann hätte es
vermutlich keine klassische Antike gegeben.
Welche Strecke der Läufer genommen hat, der angeblich die
Siegesnachricht nach Athen trug und vielleicht Phillipides hieß,
vielleicht auch Diomedon, oder aber Ariston, geht aus den Quellen nur
andeutungsweise hervor.
Marathon liegt 37 Kilometer von Athen entfernt. 1896 war die Strecke 40
Kilometer lang, mit ein paar Schlenkern. 1908, bei den Spielen von London,
bestand die königliche Familie darauf, dass vor dem Schloß von
Windsor gestartet wird, daraus ergab sich eine Streckenlänge, die 1921
für verbindlich erklärt wurde: 42,195 Kilometer.
Die Strecke von Marathon nach Athen gehört nicht zum offiziellen
Jahresprogramm des Weltverbandes wie die Läufe in Berlin oder New York,
sie hat zu viele Steigungen, für Rekorde ist sie ungeeignet. Und dann die
Hitze! Die Luft! Bei einem Volkslauf vor einigen Jahren wurden allein
32 deutsche Läufer mit Smogvergiftung in die Krankenhäuser
eingeliefert.
Für Olympia haben die Griechen eine neue, vierspurige Straße
gebaut. Sie verbindet die Stadt Athen, auf der Westseite der Halbinsel Attika,
mit dem Ostufer der Halbinsel, wo einige Badeorte liegen, beliebte Ziele
für Wochenendausflüge der Athener. Die Straße wird auch nach
den Spielen nützlich sein. In der Nähe der Straße gibt es fast
keine wilden Müllkippen, wie überall sonst, und sogar die
Leidenschaft der Griechen, ihre Häuser nur halb fertig zu bauen, wird hier
gebremst ausgelebt. An den Rändern der Straße wurden Tausende von
Olivenbäumen und anderes Grünzeug gepflanzt. Diese Olivenbäume
werden in 50, vielleicht sogar schon in 30 Jahren eine Menge Schatten spenden.
Einstweilen sehen sie aus wie Besenstiele mit einem Puschel
Spargelkraut oben dran. Nicht in jedem Fall kann man ihnen eine
optimistische Überlebensprognose stellen.
In der Mitte der Straße verläuft eine Leitplanke. In den
Ortschaften, wo es stärker auf die Ästhetik ankommt, ist es ein
Ziergitter mit goldenen Knubbeln. Das Gitter soll die Menschen dazu zwingen,
die Straße nur dort zu überqueren, wo sich ein offizieller
Übergang befindet. Die Bevölkerung Attikas lehnt
Zwangsmaßnahmen dieser Art ab. Überall auf der Strecke sieht man
Menschen - darunter hochbetagte Mütterchen, stark Übergewichtige und
Greise mit Krückstock - , die über das Gitter klettern oder sich
durch den sehr schmalen Schlitz zwischen zwei Gittern zwängen, um so zu
demonstrieren, dass ein Grieche ein freier Mensch ist, auch im
Straßenverkehr.
Die Mopedfahrer aber, die durch das Gitter am Wenden gehindert werden,
lösen ihr Problem, indem sie einfach auf der falschen Straßenseite
fahren und den Gegenverkehr hin und wieder durch Hupen oder Winken auf sich
aufmerksam machen.
Der Grieche ist ein freier Mensch - besonders im
Verkehr
Der Verkehr im Großraum Athen ist quasi die Eiger Nordwand des
Autofahrers. Das liegt weniger am Fahrstil der Athener als an dem
Missverhältnis zwischen dem vorhandenen Raum und der Zahl der
Verkehrsteilnehmer. Vierrädrige und zweirädrige Fahrzeuge sowie
Fußgänger überholen einander auf beiden Seiten und steuern ihr
jeweiliges Ziel mit furchteinflössender Entschlossenheit an. Für
Olympia hat die Polizei Sonderregeln verkündet. Am Flughafen bekommen
Besucher einen Zettel, auf dem schwer verständliche Anweisungen stehen,
zum Beispiel: „PCZ will be surrounding TCZ from 100 to 1000
m“.
Einige Verkehrsadern wurden in drei Spuren unterteilt, eine nur für
Olympiabeteiligte, eine für Busse und Taxis, die dritte für den
gesamten Rest. Viele Griechen halten diesen Versuch, Ordnung zu stiften,
für einen Ausfluß weltfremden Denkens. An wichtigen Kreuzungen
regeln jetzt Polizisten mit weißen Handschuhen den Verkehr, die Ampeln
laufen aber weiter. Oft geschieht es, dass eine Ampel auf Rot steht,
während der Polizist wütend und pfeifend die verwirrten Fahrer zum
Starten animiert. Manche fahren los, andere bleiben stehen, und alle
hupen.
Die Marathonstrecke umrundet bald nach dem Start den Hügel,
unter dem die 192 Athener liegen, die bei der Schlacht gegen die Perser
gefallen sind. Nach ein paar Kilometern beginnen schon die
Ausläufer von Athen, die Marathonstrecke führt praktisch
ununterbrochen durch eine Landschaft aus Waschstraßen, Tankstellen,
Möbelmärkten, Autowerkstätten, Reifenlagern und
McDonald`s-Filialen.
Je näher man dem Stadtzentrum kommt und dem Olympiastadion von 1896, wo
der Lauf endet, desto größer werden die Waschstraßen. Am Rand
der Straße arbeiten drei Männer. Zwei halten ein Maßband, etwa
drei Meter lang. Der Erste drückt es auf den Boden, der Zweite zieht es
lang, manchmal muss er auch um eine Mülltonne oder einen schlafenden Hund
herum einen Bogen machen.
Wo bleibt die blaue Linie?
Der Dritte, ein alter Herr, trägt Zahlen in ein Notizbuch ein. „Wir
messen offiziell die Strecke aus“, sagt er. „Ja“, ruft sein
Kollege, „wir prüfen, ob es wirklich 40,2 Kilometer sind!“ Der
Alte lächelt nachsichtig. Sie kommen nur recht langsam voran.
Diesen letzten Absatz des Artikels dürfen nicht die
"course-measurer" der AIMS/IAAF lesen - meinen die Spezialisten des
real,- BERLIN-MARATHON, sonst gibts Ärger