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Vom Naturburschen zum Pflegefall

Hengelo (Holland).- Haile Gebreselassie war 38 Minuten und 55 Sekunden oder 13

730 m lang unterwegs, und plötzlich humpelte er und sank auf den Rasen.

Als er wieder aufstand, trug er einen schneeweißen dicken Verband um die

rechte Wade. Dann winkte er den sprachlosen Zuschauern im

Fanny-Blankers-Koen-Stadion im holländischen Hengelo zu, immer wieder. Der

kleine Äthiopier war auf dem Weg zu einem neuen Stunden-Weltrekord

gewesen, und jetzt musste der Sieggewohnte, der schon 15 Weltrekorde

aufstellte, zwei olympische Goldmedaillen und vier Weltmeistertitel über

10 000 m sammelte, schon zum dritten Mal seit dem vorigen Sommer Haltung

bewahren. Nur Platz zwei bei der WM in Edmonton, nur Platz drei bei der

Marathonpremiere in London. Das wäre für andere toll, ist es aber

nicht für ihn. Doch auch am Sonntagabend ließ er niemanden in sein

wundes Herz schauen, sondern lachte, lächelte, grinste. Der Äthiopier

ist im Umgang mit Sieg und Niederlage ein großer Charakterdarsteller

geworden. Das konnte er nur in persönlichen Niederlagen unter Beweis.

Insofern wird seine unvergleichliche Karriere, in der er seit 1995 der

beliebteste Leichtathlet auf dem Globus wurde, erst jetzt richtig rund.

"Das ist nicht das Ende der Welt," sagte er in der

Pressekonferenz. Gebrselassie ist weniger in der kleinen Gestalt mit dem

großen Kopf, dem eindrucksvollen Brustkorb und den dünnen Beinen

eine Häuptlingsgestalt, jedoch in seinem ganzen Benehmen. Ein

Souverän im Medienzeitalter. Andererseits stellte sich in Hengelo heraus,

dass er wider Erwarten in seinem Sport, dem er alles verdankt, bisher

erstaunlich sorglos war - ein Kind im Manne, das an einer Stelle nicht

bemerkte, wie es allmählich und unwiderruflich erwachsen wurde.

"Er fühlt nie den Schmerz, er blendet ihn einfach aus" sagte

Jos Hermens, sein holländischer Manager. Die beiden sind wie Vater und

Sohn zueinander. Wobei der Sohn seinem Vater nicht alles sagt, das ist normal.

Gebrselassie pflege auf leise Vorwürfe zu antworten: "Ich fühle

den Schmerz nicht in meinem Kopf." Doch jetzt müssen sie Tacheles

miteinander reden, zum ersten Mal. Der Ältere weiß, dass er auf

diese Situation geduldig hatte warten müssen. Zuerst überstrapazierte

der Läufer seine Achillessehne, nur mit Mühe und Not erreichte er

überhaupt den olympischen Endlauf in Sydney 2000. Und seit er den Marathon

anpeilt, um auch auf den klassischen 42,195 neue Maßstäbe zu setzen,

begehren sogar ein paar kleine, jedoch unverzichtbare Muskeln in den Waden auf.

Heute rechts, und erst vor kurzem links, weshalb er beim London-Marathon am 14.

April kurz vor dem Ziel den Gang hatte heraus nehmen müssen. Schon zwei

Wochen davor war er nach einem erfolgreichen Halbmarathon in Lissabon zum

Umkleiden nur gehumpelt. "Kein Problem," hörte Hermens.

Tatsächlich, am nächsten Morgen joggte sein Schützling, als sei

es nur ein Spuk gewesen. Wahrscheinlich hatte sich das in 29 Jahren brav

arbeitende Beinwerk zunächst mal einen ersten Warnstreik platziert. Die

erhöhten Kilometerumfänge behagten ihm wohl nicht.

"Zwei Warnungen in zwei Monaten. Wir spielen nicht rum," sagte

Hermens. Dass Gebreselassie wieder erst zwei Tage vor dem Rennen nach Europa

flog, das hat sich so eingebürgert, soll nicht mehr vorkommen. Das Laufen,

der erste Broterwerb, sie sollen absoluten Vorrang erhalten. Es ist klar, was

ihn daheim festbindet. Die Familie mit den drei Kindern und die Geschäfte,

er hat über vierhundert Menschen in Brot. Der "Natur"bursche hat

anzuerkennen, dass er an seinen Grenzen angelangt ist, dass ohne Hege und

Pflege nichts mehr gehen wird im zweiten Teil der Laufbahn, der auf der

Straße stattfinden wird. Und die beste physotherapeutische und

medizinische Sorgfalt erfährt er halt in Europa. "Er ist noch

ehrgeiziger geworden," sagte Hermens. "Rekorde sind geradezu seine

Obsession." Genügend Herausforderungen liegen jedenfalls wieder

herum. Der Äthiopier ist mit 29 noch jung genug.

Von Robert Hartmann