Von Robert Hartmann
Eldoret, Kenia. Sie sind neun Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 19
Jahren. Ihre Heimat ist der Süden Sudans, dort, wo nach einem 1983
ausgebrochenen Bürgerkrieg zwischen dem arabisierten Norden und dem
überwiegend christlich geprägten Süden kürzlich
Friedensgespräche zu einem vorläufig glücklichen, wiewohl noch
zerbrechlichen Ende geführt haben. Seit September herrscht
Waffenstillstand, und auch diese jungen Leute setzen alle ihre noch so
bänglichen Hoffnungen auf eine endlich gute Zukunft. Dann würden sie
nämlich zu ihren Eltern und Geschwistern zurückkehren dürfen.
"Meine Mutter ist tot, aber mein Vater lebt," sagt der
16-jährige Abdul, über den es heißt, er sei intellektuell
brillant. Er habe sein Dorf seit sieben Jahren nicht mehr gesehen. Sieben von
ihnen waren Kindersoldaten, länger als ein Drittel ihres Lebens. Sie
griffen mit neun oder elf zur Waffe. Abdul erzählt, wie es sich
verhält mit dem Krieg. Am Anfang sei er wie ein Abenteuerspielplatz.
"Aber dann ziehst du in die erste Schlacht, und neben dir stirbt dein
Freund." Wenn das Thema fällt, sagt er oft nur, "es war zu hart.
Zu hart".
Die kleine Schar lebt jetzt seit acht Monaten auf der Kazi-Mingi-Farm
("Viel Arbeit") der kenianischen Läuferlegende Kipchoge Keino
(u.a. Olympiasieger über 1500m in Mexiko City 1968) im Nordwesten des
ostafrikanischen Landes. Unter der Leitung der UNESCO waren 3000 sudanesische
Kindersoldaten in sichere Camps und später außer Landes gebracht
worden, und Keino hatte nicht Nein gesagt, als die Anfrage nach einer Bleibe
auch an ihn gerichtet wurde. Er gab ihnen ein Dach, er kleidete sie ein,
ernährt sie und schickt sie zur nahen Grundschule. Sie rufen ihn jetzt
"Daddy". Er ist ihr neuer Vater. "Für sie ist hier das
Paradies," sagt er. Aber er betont den Satz so, dass seine innere Reserve
gut herauszuhören ist. Denn es gibt keinen Garten Eden, auch hier nicht,
wo 150 Kühe mehr Milch geben, als die Neun vom Nachbarland im Norden es
sich in ihren kühnsten Träumen jemals hatten vorstellen können.
Vor ihrem Transfer aus der Kriegszone hatten sie ihre letzte Milch von ihren
Müttern erhalten. Klumpen aus Maismehl und dicke Bohnen, dazu Wasser, das
waren ihre täglichen Mahlzeiten gewesen. Es muss ihnen so vorkommen, als
habe eine Schleuder sie aus der Steinzeit ohne Umstände ins 21.
Jahrhundert hinein geworfen.
Auf Keinos Farm hat der Weltdachverband der Leichtathleten, die IAAF, ein
ständiges Höhentrainingslager für junge Läufer
eingerichtet. Hier lebt Afrika in diesen Monaten seine Extreme aus, die der 67
Jahre alte Keino, seit 2000 auch Mitglied des Internationalen Olympischen
Komitees, in einer großzügigen Geste zusammen führte. Das zeigt
sich wie unter einem Brennglas eines Morgens, als Abdul plötzlich in einem
"offiziellen" sudanesischen Trainingsanzug auftaucht.
"Offiziell" ist gleichbedeutend mit dem Norden, in dem die
Staatsgewalt liegt. Das nationale Tuch ist ein Geschenk von Abduls drei Jahre
älteren Landsmann Ahmed Ismael, einem jungen gläubigen Moslem. Die
Chancen stehen gut, dass er eines Tages 800-m-Weltmeister wird, so unfassbar
groß ist sein Lauftalent. Er lebt auf die Kazi-Mingi-Farm, um sich auf
die Olympischen Spiele in Athen vorzubereiten. Ismael und die Neun wurden auf
dem neutralen Platz enge Freunde. "Er hat uns T-Shirts geschenkt,
Laufschuhe und sogar einen Fotoapparat." Hinter Ismael sind schon die
Kataris mit ihren Petro-Dollars her. Er brauchte nur die
Staatsbürgerschaft zu wechseln. Er könnte schnell ein wohlhabender
Mann sein. Noch sagt er. "Ich will nicht."
Einige hundert Kilometer weiter nördlich, am Lake Turkana, soll die
Wiege der Menschheit stehen. Es eine Laune der menschlichen Natur, dass die
talentiertesten Läufer gerade aus dieser Weltgegend stammen. Vier der
Sudanesen haben sich bald anstecken lassen von den gleichaltrigen Begabungen
aus Kenia, Uganda und Eritrea, die nur dreihundert Meter entfernt in dem neuen
IAAF-Hostel wohnen und sich längst aus der Masse herausgehoben fühlen
dürfen. Für sich allein aber laufen die Sudanesen fast täglich
die rund acht Kilometer von der Farm bis zum Ortseingang der Stadt Eldoret und
zurück. Sie besitzen weder Armband-, noch Stoppuhr. Die Farmangestellten
erzählen, dass das Quartett nach der Rückkehr jedes mal völlig
erschöpft auf den Rasen fällt und nach Luft ringt. Ihr Ältester
ist Jacob. "Nein," antwortet er auf die Frage, ob er wisse, wie lang
die Strecke sei. Wir schenken ihnen eine Stoppuhr, sie klatschen alle, und zwei
Tage später wissen sie, dass sie siebzig Minuten lang gerannt sind.
"Wir hätten gern," sagt Jacob, "auch Anleitungen für
unser Training". Bisher haben sie zwar ein bisschen monoton die Grundlagen
geschaffen, jedoch immerhin nichts falsch gemacht.
Um sie kümmert sich kein Sozialarbeiter, das wäre Luxus. Für
eine Woche schaut das junge amerikanische Ehepaar vorbei, das in die
Kindersoldaten-Aktion der UNESCO eingebunden war und die Verpflanzung der Neun
nach Eldoret bewerkstelligte. Die Jungen hätten sich wochenlang nicht
einmal berühren lassen, berichten sie. Der Fremde als Feind. Doch
irgendwann hätte der Amerikaner eine der großartigsten Entdeckungen
in jener Zeit gemacht, und so gleich seiner Frau zugerufen: "Taban
smiles". Taban lächelt.
Die jüngsten Schul-Zeugnisse der jungen Sudanesen seien, sagt Keino,
"schockierend gut" gewesen. Ihre einheimischen Klassenkameraden sind
zehn, elf Jahre alt. Andererseits lernten die Neuen schon in kürzester
Zeit sehr leidlich Englisch und Suaheli, die ostafrikanischen Verkehrssprachen.
Das Ehepaar berichtet, wie die Neun ihnen ständig ihren größten
Wunsch ans Herz gelegt hatten: Bildung, Lernen, Schule. In ihrer Heimat sei
für 300 000 Jugendliche seit zwanzig Jahren der Abschluss der dritten
Klasse Grundschule der höchste Bildungsstand.
Wir sitzen auf einem quer liegenden Baumstamm, inmitten des besten Klimas
der Welt, 2100 m über dem Meer, und am Ende des Gesprächs sagt ein
elegischer Abdul einfach "Danke für das Gespräch". Er hat
sich schon gut frei gelaufen.