Gegen Ende des letzten Jahres entschloss ich mich am Swiss –Jura Marathon
vom 4.7 bis 10.7.2004, immerhin Europas längster Berglauf, mitzumachen. Da
ich im März dieses Jahres schon einen 100 km Lauf (DM in Kienbaum)
absolvierte, war ich ganz gut vorbereitet.
323 Kilometer in 7 Etappen
Der „Swiss – Jura“ hat jedoch eine Länge von 323 km, die
in sieben Tagesetappen von 37 bis 53 km gelaufen werden, wobei zusätzlich
ca. 8800 Höhenmeter zu bewältigen sind. Dabei geht die Strecke quer
durchs Schweizer Juragebirge, daher der Name.
Gesamtverlauf: Von Genf bis nach Basel.
Es gibt zwei Kategorien.
a): „Runner“ (mit Zeitlimit – Rangliste)
b): „Finisher“(ohne Rangliste)
Wer bei den „Runnern“ startete durfte ein Zeitlimit, das von der
Länge der Etappe abhing, nicht überschreiten. Sonst war man aus dem
Rennen ausgeschieden und konnte nur noch bei den „Finishern“
weitermachen.
Die Regeln waren also bekannt, aber Erfahrung hatte ich noch keine. So
verabredete ich mich mit meinem väterlichen Freund und Vereinskameraden
Jürgen Köllner, der an diesen Lauf schon vor zwei Jahren mitmachte,
um mir einige wichtige Tipps abzuholen. Doch erstmal hetzte er mich mit seinen
verrückten Kumpels vier(!) Tage vor der ersten Etappe des „Swiss
– Juras“ zwei Stunden den Teufelsberg hoch und runter. „Nur,
damit Du mal siehst, was da ansatzweise auf Dich zukommt. Wenn Du den
„Swiss – Jura“ bestehen willst, musst Du bereit sein, sieben
Tage auf Deine Grundrechte als Bürger verzichten zu können.“
-Er ist wirklich wie ein Vater zu mir.
Mit dieser „Vorbereitung“ trat ich also die Reise in die Schweiz
an. Da ich keinen aus meinen Verein davon überzeugen konnte mitzumachen,
flog ich leider ganz alleine. Der Druck diesen Wettkampf bestehen zu
müssen, war dadurch besonders hoch. Würde ich scheitern, hätte
der SCC keinen Läufer ins Ziel gebracht.
Am 3. Juli kam ich in Zürich per Flieger an und franste mich weiter mit
Bahn und Bus nach Genf durch, wo der Wettkampf ja startete. Ich fing an die
anderen Teilnehmer kennen zu lernen und bezog mein Quartier, dass sich in einem
Bunker befand. Ist schon seltsam die Nächte mit weit über 100
Menschen in einem Raum zu verbringen, die man überhaupt nicht kannte. War
ich nicht gewöhnt.
Am nächsten Tag war es dann soweit:
Die 1. Etappe: Von Genf bis St. Cergue; 45 km +1200m/-534m; Zeitlimit: 6h
Bei strahlendem Sonnenschein liefen wir los. Es sollte allerdings der letzte
schöne Tag dieses Wettkampfes sein. – Ich lief sehr verhalten; hatte
immer wieder Jürgens Stimme im Ohr: „Laufe „sparsam“.
Das Rennen ist noch unvorstellbar lang und abgerechnet wird zum
Schluss!“
So kam ich nach 4:49:05 ins erste Etappenziel. Noch deutlich im Limit.
Am Abend erfuhr ich, dass ich auf Platz 43 (von 100) rangierte und pflegte
meinen Sonnenbrand, den ich durch das schöne Wetter bekommen hatte.
Der erste Läufer musste ausscheiden.
Die 2. Etappe:
Von St. Cergue bis Vallorbe; 47 km +730m/-1021m; Zeitlimit: 6h Nachdem ich mich
mit Salbe (gegen Blasen) und Tape versorgt hatte, liefen wir los. Das Wetter
war mies: kalt und regnerisch. Dadurch war der Boden glitschig; ich rutschte
ein paar Mal aus. Die Etappe fiel mir schwer. Ich fing an, mich zu quälen.
Als ich ins Ziel kam, sah ich wirklich „schön“ aus:
Völlig verdreckt. Das Ergebnis war nun auch nicht mehr so gut: 5:11:14,
also schon etwas näher am Limit. Bei der Tagesplatzierung belegte ich
Platz: 51. Insgesamt rutschte von Platz 43 auf 45 ab.
Die 3. Etappe (Königsetappe):
Von Vallorbe bis Fleurier; 37 km +1380m/-1389m; Zeitlimit: 5.30h
Start wieder bei schlechtem Wetter. Doch der steile Anstieg kam mir entgegen.
Als ich an die höchste Stelle dieser Etappe hinaufschnaufte und sprachlos
ankam, wartete Urs Schübach (der Organisationsleiter) auf uns und
bemerkte: „Ah, da ist ja auch unser Alex aus Berlin. Gar nicht schlecht
für so`nen Flachland – Tiroler“. Ich lachte und rannte weiter.
Es lief sehr gut, obwohl ich mich bei extrem dichtem Nebel oben verlief. Etwas
Zeitverlust dadurch. Dennoch fühlte ich mich gut, als ich ins Ziel kam.
Zeit: 4.15:48. Tagesplatzierung: 33. Gesamtplatz: 41. Wieder gaben einige
Läufer auf, bzw. schieden wegen Überschreitung des Zeitlimits
aus.
Die 4. Etappe (mühsame Etappe):
Von Fleurier bis La Chaux de Fonds; 42 km +1028m/-773; Zeitlimit: 6h
Diesmal hatte ich wieder zu kämpfen. Die Anstiege waren heute zwar nicht
so steil wie am Tag zuvor, aber die Strecke schien nicht enden zu wollen.
Wieder verlief ich mich bei dem Nebel. So schloss ich mich einer dreier Gruppe
an; man kannte sich ja inzwischen. Ich bekam ein Unwohlseingefühl, das
einen Brechreiz wich. Zum ersten Mal hatte ich Zweifel den „Swiss
Jura“ zu bestehen und war froh, als ich endlich ins Etappenziel kam.
Zeit: 4:51:15 Tagesplatzierung: 34 Gesamtplatz: 38.
Auch heute mussten einige Läufer ihren „Hut nehmen“.
"Mut" machen
Bei der Urteilsverkündung, die übrigens jeden Tag nach dem
gemeinsamen Abendessen erfolgte, machte uns Urs Schübach zusätzlich
„Mut“: „Obwohl ihr nur noch drei Lauftage vor euch habt, habt
ihr bis jetzt nur 171 km, also praktisch erst die Hälfte des Gesamtlaufes
hinter euch. Nun kommen die Etappen mit 53, 49 und 50 km. Einige von euch sind
schon so kaputt und kommen immer näher an das Zeitlimit heran. Ich
empfehle diesen Läufern aufzugeben. Das Rennen beginnt praktisch jetzt
erst. – Nun beginnt die Leidenszeit.“
Ich musste ein paar Mal tief schlucken, denn ich fand, gelitten hatten wir bis
dahin doch schon genug, oder? Geknickt ging ich die Turnhalle zum Schlafen.
Karl, mit 68 Jahren der mit Abstand älteste Teilnehmer, spielte uns jeden
Abend vor dem Zapfenstreich ein mut machendes Ständchen auf seiner
Mundharmonika. Doch in Anlehnung auf Urs Rede gab er heute „Spiel mir das
Lied vom Tod“ zum Besten.
Vielleicht war das der Grund, warum der eine oder andere Teilnehmer am
nächsten Morgen nicht beim Start erschien.
Übelkeitsgefühl
Die 5. Etappe (Kaiseretappe):
Von La Chaux de Fonds bis Biel; 53km +1340m/-1890m; Zeitlimit: 7h.
Kurz nach dem Start setzte wieder das Übelkeitsgefühl ein. Ich dachte
zum ersten Mal an aufgeben und Panik machte sich in mir breit. – Gott sei
Dank wurde es wieder besser. Die Übelkeit wich, und ich schöpfte
wieder neuen Mut. So kam ich letztlich ungefährdet ins Ziel der
längsten Etappe. Zeit: 6:00:27; Tagesplatzierung: 34; Gesamtplatz: 34. Am
Abend nahm ich wieder von einigen Kameraden Abschied, die die Heimreise
antreten mussten. Sie taten mir leid, so nahe vor dem Ziel.
Jede Bewegung tat weh
Die 6. Etappe: Von Biel bis Balsthal; 49 km +1634m/-1590m; Zeitlimit: 7h.
Trotz der insgesamt absolvierten Kilometer, lief es diesmal prima. Kein
Übelkeitsgefühl mehr. Die Gewissheit es bald geschafft zu haben,
beflügelte. Trotzdem hatte ich im Ziel schwere Beine. Zeit: 5:56:22;
Tagesplatzierung: 30; Gesamtplatz: 32.
Am Nachmittag genoss ich zum letzten Mal die Massage von meiner Masseuse Karin
aus Bern. Und, das muss ich an dieser Stelle einfach mal loswerden, ohne ihre
tägliche Betreuung, weiß ich nicht, ob ich den Wettkampf
einigermaßen glimpflich absolvieren hätte können. Dass sie
extra wegen mir nach Basel, um mich im (End) – Ziel empfangen zu
können, fahren wollte, gab mir zusätzlich Motivation. Trotzdem war
meine Steifheit in allen Gliedern nicht wegzudiskutieren. Jede Bewegung tat
weh. Den anderen ging es nicht besser. In der Turnhalle war lautes
Gestöhne zu vernehmen, was bitte schön nur an den Schmerzen und
Krämpfen der noch verbliebenen Aktiven lag. Einen beobachtete ich, wie er
die Treppe zur Halle schräg, in einem 45° Winkel, hinab ging.
So viele wie an diesem Tag sind vorher noch nicht ausgeschieden.
Das "Ziehen" in der Wade
Die 7. Etappe (letzter Tag): Von Balsthal bis Basel; 50 km +1100m/-1330m;
Zeitlimit: 7h.
Die übrig gebliebenen Athleten versammelten sich zum Start für die
letzten 50 km. Man wünschte sich noch einmal „Hals – und
Beinbruch“.
Nach den ersten 10 km machte sich bei mir ein starkes „Ziehen“ in
der rechten Wade bemerkbar. Ich bekam Angst: Bitte nicht noch am letzten Tag
ausscheiden! Ich biss die Zähne zusammen. Jetzt hieß es für
mich nur noch irgendwie in Basel ankommen und im Zeitlimit bleiben und lief und
lief. Und ich schaffte es: Nach 5:33:55 kam ich im (End)Ziel von Basel an.
Meine Schmerzen waren für einen Moment vergessen; die ersten Gedanken
waren nur bei den Kameraden, die es nicht geschafft hatten. Sie hatten mein
volles Mitgefühl. – Später erfuhr ich, dass von 100 Teilnehmern
49 ausgeschieden waren, also fast 50%. Tagesplatzierung: 27; Gesamtplatz:
30.
Gesamtzeit: 36:38:06!
Mein persönliches Ziel hatte ich auch erreicht: Ich hatte mir vorgenommen
die gesamte Strecke im Laufschritt zu bewältigen, d.h. also niemals in
Gehpausen zu verfallen. Aber selbst an steilsten und höchsten Stellen
gelang es mir im Laufschritt zu bleiben. Ein Kamerad, der das oft beobachtete,
nannte mich daraufhin: „Alex, der Allesläufer“.
Als ich vom Duschen zur Siegerehrung kam, konnte ich nicht mehr gehen! Die
Schmerzen in der Wade waren durch das zur Ruhe gekommene Bein zu stark
geworden. Jemand musste mich stützen. Hätte der Wettkampf nur einen
Tag länger gedauert, hätte auch ich nicht mehr antreten
können.
„Warum macht man das?“, bin ich sowohl vor, als auch nach dem
„Swiss – Jura“, von Unbeteiligten gefragt worden. Eine
vernünftige Antwort ist darauf nur schwer zu finden. Ein bisschen
Selbstbestätigung ist wohl bei jedem Teilnehmer dabei, aber um es
herauszufinden, muss man es wohl mal selbst gemacht haben.
Was habe ich persönlich von der „Reise“ von Genf nach Basel
mitgenommen? Nun, zum einen die Erkenntnis, dass man so einen Wettkampf nicht
allein mit körperlicher Fitness bestehen kann, sondern auch mentale
Stärke beweisen muss. Ohne die geht es nicht! Man muss bereit sein sich zu
quälen. Zum anderen, dass die Läufer und Läuferinnen miteinander
und nicht wie bei vielen anderen Wettbewerben, gegeneinander laufen. Das
Aufmuntern und z. B. das Teilen von Proviant usw. während des Laufens,
halfen sehr.
So absurd dieser Wettkampf auch erscheinen mag, eines lässt sich doch
auf das „normale“ Leben übertragen: Miteinander bringt oft
mehr als gegeneinander. – Was mich angeht: Ich will es wieder tun.
Vielleicht nicht so bald, aber irgendwann …
Mit diesen Erkenntnissen trat ich die Rückreise an und freute mich
sehr, als mich mein Trainer Franz mit seiner Tochter in Berlin vom Flughafen
abholte. Auch wenn er es nie zugeben würde, er war doch ein bisschen stolz
auf mich.
Ich war froh, wieder zu Hause zu sein, aber die Kameraden und die guten
Helfer, die uns sieben Tage hervorragend betreut hatten, werde ich
vermissen.