Sie finden diesen Rückblick und alle Abstracts der Vortragenden auch
auf der offiziellen Webseite des Kongresses unter congress.berlin-marathon.com
Am 26.-29. Oktober 2002 fand in Berlin der 1. Internationale Ausdauer- und
Sportmedizinkongress statt, welcher zum Berlin-Marathon - im Jahr 2002 mit
über 40.000 Teilnehmern eine der weltweit größten
Veranstaltungen dieser Art - initiiert wurde. Der Kongress soll zukünftig
einerseits als ein wissenschaftliches Diskussionsforum etabliert werden,
andererseits die notwendige sportmedizinische Weiterbildung klinischer und
niedergelassener Kollegen ermöglichen.
Auf Letzteres verwies auch W. Heepe, Medizinischer Direktor des
Berlin-Marathon in seinem Eröffnungsreferat. Seine Aussage, dass die
deutsche Gesellschaft derzeit dem "kinetischen Nullpunkt" zustrebt,
verknüpfte er mit der Forderung, jeder Arzt müsse zukünftig in
der Lage sein, "präzise körperliche Aktivität in
Intensität und Dauer individuell zu verordnen".
Die Notwendigkeit einer individuellen Belastungssteuerung stützte C.
Bouchard, Pennington Biomedical Research Center und Louisiana State University,
Baton Rouge, USA, in seinem Übersichtsvortrag "The Role of Genes in
the Influence of Regular Exercise on Health and Performance". Er verwies
auf die vor allem durch die "HERITAGE Family Study" gewonnenen
Erkenntnisse, dass eine familiäre Aggregation bezüglich der
Adaptationskapazität besteht. Nach dem derzeitigen Wissensstand sollen
mindestens 50 % der belastungsinduzierten Antwortvarianz genetisch bedingt
sein.
K. Kinkel - zum Zeitpunkt des Kongresses noch stellvertretender Vorsitzender
der FDP-Bundestagsfraktion und Mitglied des Sportausschusses des Deutschen
Bundestages - referierte über den Stellenwert der Präventiv-und
Sportmedizin in einer immobilen Gesellschaft. Er forderte insbesondere
wissenschaftliche Untersuchungen zur Situation im Schulsport sowie
Interventionen auf diesem Gebiet ein. Ein besonderes Anliegen war Kinkel jedoch
die zukünftige Förderung körperlich und geistig behinderter
Menschen auch auf dem Gebiet der körperlichen Aktivität.
R. Wolff, Abt. Sportmedizin der Humboldt-Universität zu Berlin, sprach
in seinem Übersichtsreferat "Sportlerversorgung in der
Orthopädie - Wunsch und Wirklichkeit" die Probleme der praktischen
Betreuung an, in welcher biologische Gesetzmäßigkeiten wie z.B.
Heilungsdauer sowie naturwissenschaftliche Kriterien in der Beurteilung von
Therapien und prophylaktischen Maßnahmen (z.B. Dehnung) oftmals
missachtet werden.
W. Noack, Berlin, hinterfragte ebenfalls so genannte Wunderheilungen in der
Sportmedizin, welche oftmals auf falschen Ausgangsdiagnosen beruhen. P. Hertel,
Berlin, stellte die aktuellen chirurgischen Therapieverfahren in der Behandlung
von Knorpelschäden des Kniegelenkes dar. Hierbei ging er auf die
Notwendigkeit von Entlastung und Bewegung in der Nachbehandlung von Verfahren
wie Abrasionsarthroplastik und Mikrofrakturierung beides Methoden der
Faserknorpelregeneration ein. Derzeit besteht jedoch noch kein Konsens
darüber, ob die osteochondrale Transplantation und die autologe
Chondrocytentransplantation gegenüber den Faserknorpelmethoden ein
besseres, schnelleres, sinnvolleres oder ökonomischeres Verfahren
darstellen.
G.-P. Brüggemann, Deutsche Sporthochschule Köln, führte in
die biomechanischen Belastungsmodelle der unteren Extremität ein. Hierbei
hinterfragte er die aktuellen Vorstellungen von ursächlichen
Zusammenhängen zwischen einer defizitären skelettären
Ausrichtung sowie der Impactkraft beim Fußaufsatz mit akuten oder
chronischen Verletzungen. Insbesondere das Konzept der Dämpfung von
Laufschuhen sollte überdacht werden. Derartige technische Ableitungen in
der Sportschuhkonstruktion wurden auch von B. Segesser, Basel, Schweiz,
bezüglich der Verletzungen im Bereich der Achillessehne und des oberen
Sprunggelenkes in Frage gestellt.
Elisabeth Steinhagen-Thiessen, Charité, Berlin, stellte die
Notwendigkeit einer Reduktion des LDL-Cholesterins in der Primär- und
Sekundärprävention arteriosklerotischer Erkrankungen heraus. Hierbei
ist neben einer medikamentösen lipidsenkenden Therapie eine
Lebensstiländerung mit Ernährungsumstellung und körperlicher
Aktivität erforderlich. Chronische, aber auch isolierte körperliche
Belastungen, führen zu einer quantitativen als auch qualitativen
Veränderung spezifischer Lipoprotein-Unterklassen.
A. Berg, Freiburg, wies insbesondere auf die trainingsinduzierte
Aktivitätssteigerung der Lipoproteinlipase im Muskel und
Gefäßbett als auch der hormonsensitiven Lipase im Fettgewebe hin.
Dies spielt neben der Hemmung der hepatischen Lipase eine Schlüsselrolle
in der Senkung z.B. von small dense LDL-Partikeln und in der Umwandlung von
HDL3 zu HDL2. Zielrichtung einer Intervention sollte primär jedoch nicht
die Steigerung der körperlichen Fitness, sondern eine Erhöhung des
Energieumsatzes sein, da trotzt fehlender Verbesserung der
Leistungsfähigkeit signifikante Veränderungen atherogener
Risikofaktoren nachgewiesen werden konnten.
G. Predel, Deutsche Sporthochschule Köln, wies auf das therapeutische
Potential von körperlicher Aktivität beim arteriellen Hypertonus hin.
Metaanalytische Betrachtungen ergaben antihypertensive Effekte durch einen
zusätzlichen aeroben Kalorienverbrauch von 2.000 kcal, welche in der
Größenordnung von Pharmaka liegen. Die Senkung des Blutdrucks betrug
systolisch 8,1 diastolisch 6,2 mm Hg sowie des belastungsinduzierten maximalen
Blutdrucks 7,6 mm Hg, wobei 80 % der Absenkung bereits nach 8 Wochen erzielt
wurde.
W. Kindermann, Universität Saarbrücken, verwies auf die Beachtung
der Beeinflussung der Leistungsfähigkeit beim sporttreibenden
Hypertoniker. Kalziumantagonisten, ACEHemmer und AT1-Blocker verhalten sich
stoffwechselneutral und beeinflussen Energiebereitstellung sowie
Leistungsfähigkeit nicht. Obwohl Betablocker als effektivste
Substanzgruppe hinsichtlich der Senkung des Belastungsblutdruckes anzusehen
sind, sollten beim körperlich aktiven Hypertoniker lediglich
Kombinationspräparate mit niedrig dosierten Beta-1-selektiven Blockern
Verwendung finden.
H.-H. Dickhuth, Freiburg, referierte über die Differentialdiagnostik
der physiologischen und pathologischen Herzhypertrophie. Nach einem
geschichtlichen Überblick wies er auf die bekannte harmonische
Herzvergrößerung als Merkmal der physiologischen
Herzvergrößerung sowie deren mögliche Rückbildung nach
Reduktion der körperlichen Aktivität hin. Besondere
differentialdiagnostische Schwierigkeiten ergeben sich immer dann, wenn neben
einer physiologischen auch eine pathologische Hypertrophie aufgrund anderer
Veränderungen möglich sei. In 70-90 % der Fälle ergebe sich
jedoch aufgrund der nicht-invasiven diagnostischen Möglichkeiten eine
eindeutige Diagnose.
L. Röcker, Berlin, forderte insbesondere die Beachtung
präanalytischer Einflussfaktoren - hierzu zählt auch die
körperliche Belastung - bei der Beurteilung von Laborparametern.
Beispielhaft stellte er den derzeitigen Goldstandard in der Diagnostik des
Eisenhaushaltes vor. Als derzeit bester Indikator gilt der lösliche
Transferrin-Rezeptor sowie der Transferrinrezeptor- Index, welcher sich aus dem
Quotienten von löslichem Transferrin-Rezeptor zu Ferritinkonzentration
ableitet.
Einen Themenschwerpunkt stellte die Herzfrequenzvariabilität (HRV)
sowie deren Nutzbarkeit in der Belastungsteuerung dar. Andrea Horn, Bochum,
wurde für ihre Arbeit "Determinanten der
Herzfrequenzvariabilität in Ruhe" als Nachwuchswissenschaftlerin
geehrt. Sie konnte an 84 Männern und 51 Frauen den Einfluss von
Herzfrequenz und Lebensalter auf die HRV nachweisen, während das
Geschlecht nur die kardiovagale Aktivität determinierte. Relatives
Körpergewicht und Ausdauerleistungsfähigkeit verhielten sich
unabhängig.
Nach A. Schmidt-Trucksäss, Freiburg, weisen andere Studien jedoch einen
positiven Zusammenhang zwischen HRV und Ausdauerleistungsfähigkeit auf.
Physiologische Grundlagen, den klinischen Nutzen sowie methodische Standards
stellte die Abteilung des leider erkrankten M. Malik, St. George.s Hospital,
London, vor. Neuere Parameter für das kardiale Risikoscreening nach
Myokardinfarkt, wie z.B. die Heart Rate Turbulence, weisen neben der
linksventrikulären Ejektionsfraktion die größte Aussagekraft
bezüglich der Endpunkte auf.
Dies wurde durch H. Löllgen, Klinikum Remscheid, bezüglich der
klinischen Relevanz durch weitere Verfahren der kardialen Diagnostik
ergänzt, wobei er auch auf die kardiale Beanspruchung im Ausdauersport
einging.
Laut L. Brechtel, Humboldt-Universität zu Berlin, ist aber eine
Anwendung von HRV-Parametern zur Trainings- und Belastbarkeitssteuerung derzeit
noch nicht ausreichend wissenschaftlich begründet. Insbesondere die
Beeinflussung durch Atmung, Thoraxexkursionen und Blutdruckmodulation, welche
via zentralnervöser Netzwerke die HRV wesentlich bedingen sowie die
unkritische Anwendung von frequenzbasierten Methoden wird in den vorliegenden
Studien derzeit nicht ausreichend berücksichtigt. Eigene Befunde
während der Entwicklung eines Überbelastungszustandes weisen für
die HRV in Ruhe und die Reaktionsmuster nach Orthostase sowie für die
Baroreflexsensitivität nur kurzfristige Veränderungen auf, welche
sich nach 2 Wochen trotz anhaltender Überlastungssymptomatik wieder
normalisierten.
Alle Referenten dieses Themenschwerpunktes waren sich einig, dass die
derzeit unkritische Anwendung im Trainingsalltag im Gegensatz zu
kardiologischen Indikationsgebieten dringend weitere kontrollierte Studien
erfordert.
Epidemiologische Daten von 1.540 Teilnehmern der Berlin-Marathons stellte L.
Brechtel, Berlin, vor, wobei sich ein nicht ausreichendes Problembewusstsein
der Läufer bezüglich der gesundheitlichen Risiken ergab. Symptome im
Sinne eines "Übertrainings" gaben 38,2 % der Befragten an, wobei
die genannten subjektiven Ursachen (Trainingsgestaltung, Regenerationsmangel,
psychosozialer und beruflicher Stress) nicht durch die objektiv erhobenen Daten
der Trainingsanamnese und der Schlafdauer bestätigt werden konnten. Nur
24,4 % der im Mittel 40-jährigen Läufer konnten ein Belastungs-EKG
innerhalb der letzten 12 Monate nachweisen. Die Flüssigkeitsaufnahme
während des Marathonrennens war bei 61 % der Befragten defizitär. 7
Läufer starteten mit einem akutem Infekt, 10 beendeten den Lauf sogar mit
Symptomen aufgrund einer möglichen kardialen Genese.
Auch K.-M. Braumann, Universität Hamburg, referierte eine Vielzahl von
potentiellen "Nebenwirkungen" eines Ausdauertrainings. Als
nichttraumatische Schädigungsmöglichkeit wird neben den Elektrolyt-
und Eisenhaushaltstörungen bzw. Anämien eine erhöhte
Infektanfälligkeit beobachtet. Des weiteren kann es zu einer
belastungsinduzierten "postexercise Migraine" sowie zu
Nierenfunktionsstörungen nach Einnahme von nichtsteroidalen
Antiphlogistika bei gleichzeitiger Dehydratation kommen, welche im Extremfall
eine kurzzeitige Dialysepflichtigkeit bedingen können.
Die Veränderungen der Immunreaktion durch Ausdauersport betrachtete G.
Uhlenbruck, Köln, unter dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Reaktionen
von Respondern und Non-Respondern bzw. der Abhängigkeit der Interleukin
6-Antwort von der Muskelfaserzusammensetzung. Hierbei betrachtete er die
Muskelzelle als "Immunzelle", welche via muskulärem Gewebestress
anti-inflammatorisch auch auf andere Organe wirkt.
Weitere Übersichtsreferate hielten T. Meyer, Saarbrücken, zum
Thema "Schwellenkonzepte in de Leistungsdiagnostik und ihre
Praxisrelevanz" und D. Herold vom Allergiezentrum Westend, Berlin,
über "Dermatologie und Sport: Sport-assoziierte Belastungen der Haut:
Erkennung, Behandlung und Prävention" sowie D. Böning, Berlin,
über "Ausdauersport: Höhentraining - was ist
gesichert?"
Der Samstag war der Sporternährung mit den Referenten M. Hamm, Hamburg,
Sandra Kluge, Berliner Akademie für Sportmedizin, T. Albers, BSA-Akademie,
Mandelbachtal und G. Strobel, Freie Universität Berlin vorbehalten, wobei
neben praxisrelevanten Aussagen insbesondere die kritische Hinterfragung vieler
Sporternährungsprodukte auf Grundlage einer "evidence- based
medicine" im Vordergrund stand.
Letzteres wurde auch von N. Worm, Berg, zu Kongressbeginn bezüglich der
Ernährungsumstellung bei Herz-Kreislauf- Erkrankungen gefordert. Neben
einer Postersession wurden vor allem die 14 verschiedenen Workshops zu
praxisbezogenen Themen wie Leistungsdiagnostik, Belastungssteuerung, Diabetes
bzw. Asthma und Sport, Notfälle beim Sport und Erstbehandlung von
Verletzungen, Biomechanik des Laufens, Sportschuhforschung, Physiotherapie,
Tapen etc. von den Teilnehmern stark frequentiert.
Als Fazit kann der 1. Internationale Ausdauer- und Sportmedizinkongress mit
nahezu 700 Teilnehmern an 3 Tagen als wegweisende Veranstaltung bezüglich
einer Verzahnung zwischen universitärer und praxisorientierter
Sportmedizin angesehen werden. Aufgrund der sehr gut besuchten Veranstaltung
soll der Kongress zukünftig alle 2 Jahre im Umfeld des Berlin-Marathon
stattfinden.
Wir danken unseren Partnern Pfizer, Gatorade, Takeda Pharma, Berlin-Chemie,
GlaxoSmithKline und Jaeger, ohne deren Unterstützung eine derartige
Veranstaltung nicht möglich gewesen wäre.
2002 Brechtel - L. Brechtel, Berlin, Deutsche Zeitschrift für
Sportmedizin - Jahrgang 53, Nr 11