“Ich wusste, dass ich hier in London sehr schnell laufen kann, und dass
mir die Zuschauer dabei helfen würden“, sagte Paula Radcliffe, die
sich, begleitet von zwei Tempomachern, vom Start weg immer mehr von ihren
Konkurrentinnen absetzte. Angefeuert von einem begeisterten Millionenpublikum
am Streckenrand lief sie ein relativ gleichmäßiges Rennen, wobei die
zweite Hälfte aber schneller war als die erste (68:02 und 67:23).
“Die Zuschauer haben mich regelrecht zum Weltrekord getrieben – es
war unglaublich“, sagte Paula Radcliffe, die sich mit Sieg- und
Rekordprämien insgesamt 235.000 Dollar verdient. Das Startgeld für
Englands Sportlerin des Jahres 2002 dürfte noch deutlich über dieser
Summe gelegen haben. Auf dem Weg zum Sieg brach Paula Radcliffe auch noch den
30-km-Weltrekord. Nach 1:36:36 Stunden hatte sie diesen Punkt erreicht. Ob
allerdings diese Zeit anerkannt werden kann, ist nicht sicher, da nicht klar
war, ob an der Stelle ein offizielles Kampfgericht platziert worden war. Ebenso
unklar blieb zunächst die 25-km-Zwischenzeit.
“Ich wollte vorher nicht über mögliche Zeiten spekulieren.
Denn ich laufe eigentlich immer nach Gefühl. Ich renne nicht gegen die
Uhr. Besonders bei einem Marathon geht es um einen Kampf gegen sich selbst
– man muss dabei auf seinen Körper hören. So laufe ich auch im
Training. Als ich mich jetzt nach der ersten Hälfte des Rennens gut
fühlte, konnte ich noch etwas zulegen. Ich wusste, dass ich schneller war
als in Chicago, weil meine Zeiten für die einzelnen Meilen schneller waren
als im vergangenen Oktober“, erklärte Paula Radcliffe.
“Vielleicht ist es für mich in Zukunft möglich, noch schneller
zu laufen. Aber ich kann das jetzt nicht sagen, denn man weiß nie, was
passiert. Ich werde versuchen, mein Training noch zu steigern.“
Eine Sensation war der Londoner Weltrekordlauf der Paula Radcliffe jedoch
nicht. Erst vor gut einem Monat hatte sie bei einem Straßenlauf in Puerto
Rico die 10-km-Weltbestzeit auf 30:21 Minuten gesteigert. Unvergessen ist ihr
Rennen bei den Europameisterschaften von München, als sie im vergangenen
August trotz eines Unwetters den 10.000-m-Rekord auf 30:01,09 Minuten
schraubte. In diesem Sommer dürfte Paula Radcliffe als erste
Europäerin unter 30 Minuten laufen. “Im vergangenen Jahr hätte
ich schon schneller laufen können, aber die Bedingungen stimmten nicht.
Ich hoffe, dass ich mich nun steigern kann.“ Zu den deutlichen
Verbesserungen, die es im Frauen-Marathon in den letzten eineinhalb Jahren
gegeben hat, sagte Paula Radcliffe: “Unsere Disziplin entwickelt sich
weiter. Aber das liegt nicht nur an mir. Deena Drossin hat heute zum Beispiel
einen viel größeren Sprung gemacht als ich.“
Stoppen können Paula Radcliffe offenbar nur Fahrradfahrer. Im
vergangenen Jahr war sie im Training vor dem London-Marathon mit einer sie
sogar begleitenden Radfahrerin kollidiert, dieses Mal passierte ihr das gleiche
wieder. Beim Höhentraining in Albuquerque (USA) fuhr ihr eine
Fahrradfahrerin in die Hacken. Beine, Hände und das Gesicht hatten blutige
Schrammen, ihr Kiefer war sogar ausgerenkt. Doch nach ein paar Tagen Pause
konnte Paula Radcliffe das Training wieder aufnehmen. Lediglich Äpfel
konnte sie vier Wochen lang nicht essen. “Ich glaube die Radfahrerin hat
nicht gewusst, dass sie die Weltrekordlerin umgefahren und fast aus dem
London-Marathon geworfen hätte“, erzählte Paula Radcliffe, die
auch für ungewöhnliche Marathon-Wettquoten der englischen Buchmacher
sorgte. Wer auf die Vorjahressiegerin setzte, konnte so gut wie nichts
verdienen. Kenias Läuferstar Catherine Ndereba war schon vorher so gut wie
abgeschrieben. Wer 10 Pfund setzte, hätte bei einem Sieg von ihr 100 Pfund
kassiert.
Es wäre auch keine Überraschung mehr, wenn Paula Radcliffe den
Frauen-Marathon in eine weitere neue Dimension treiben würde. Denn London
gilt nicht unbedingt als schnellster Marathonkurs. Berlin, Chicago oder
Rotterdam bieten flachere Strecken, auf denen Paula Radcliffe mit ihrer
gestrigen Leistung vielleicht schon unter 2:15 Stunden gelaufen wäre.
“Berlin ist auf jeden Fall der schnellere Kurs im Vergleich zu
London“, sagte Joseph Ngolepus, der in London Dritter war.
Wahrscheinlich ist jedoch, dass der London-Marathon für längere
Zeit der letzte für Paula Radcliffe gewesen ist. Im Sommer will sie sich
auf die Bahn-Langstrecken konzentrieren, und im nächsten Jahr wird sie
sich voraussichtlich sehr langfristig auf den olympischen Marathon in Athen
vorbereiten. Olympiagold wäre die Krönung ihrer Karriere.
“Hundertprozentig habe ich mich aber noch nicht entschieden, welche
Distanz ich in Athen laufen möchte“, sagte Paula Radcliffe, die auch
gefragt wurde, ob der Marathon nun ihre Lieblingsdisziplin sei. “Das kann
ich so nicht sagen. Offensichtlich bin ich im Marathon am erfolgreichsten, und
die Strecke passt am besten zu mir. Aber ich laufe auch sehr gerne ein
1500-m-Rennen oder Crossläufe. Ich habe einfach Spaß am
Laufen.“
Da die englischen Meisterschaften im Rahmen des London-Marathons
stattfanden, sorgte Paula Radcliffe gestern für ein weiteres Novum. Denn
sie war schneller als alle englischen Männer, weil die besten unter ihnen
nicht dabei waren. Chris Cariss war der schnellste Engländer in 2:17:57
Stunden. Da auch kein Waliser, Schotte oder Nordire schneller lief, bekam Paula
Radcliffe noch einen weiteren Pokal: Traditionell wird der schnellste britische
Mann beim London-Marathon mit der Jim-Peters-Trophäe geehrt. Zum ersten
Mal bekam ihn gestern eine Frau. Paula Radcliffe ist gut für neue
Dimensionen.