Chicago hat London noch übertrumpft. Nachdem das Rennen in der britischen
Metropole im April das bislang hochkarätigste aller Zeiten war, legte der
Chicago-Marathon nach. Dabei sorgte Paula Radcliffe für den Höhepunkt
des Laufes: Die Engländerin siegte in der neuen Weltbestzeit von 2:17:18
Stunden und verbesserte die vor einem Jahr in Chicago aufgestellte Marke von
Catherine Ndereba (Kenia/2:18:47) damit gleich um 89 Sekunden. Ndereba wurde im
direkten Duell mit Radcliffe in 2:19:26 Zweite. Zum ersten Mal blieben zwei
Frauen in einem Rennen unter 2:20 Stunden. Bei den Männern siegte Khalid
Khannouchi (USA) mit 2:05:56 Stunden. Er blieb schon zum dritten Mal in seiner
Karriere unter 2:06 Stunden und verpasste seinen im Frühjahr in London
aufgestellten Weltrekord lediglich um 18 Sekunden.
Damit hat der Chicago-Marathon 2002 die selben Sieger wie der
London-Marathon 2002. Zählt man Männer- und Frauensiegzeit zusammen,
ergibt dies in Chicago einen neuen "Weltrekord": 4:23:14 Stunden.
Zuletzt war hier London das Maß der Dinge mit 4:24:34. Berlin liegt mit
4:27:27 Stunden an dritter Stelle (1999). Das einzige, was den Chicagoer
Rekordlauf zu stoppen drohte, war das Wetter. Vorhergesagt war starker Wind,
doch die Läufer hatten Glück. Bei Sonnenschein und anfänglichen
Temperaturen von lediglich 3° Celsius kam vor mehreren hunderttausend
Zuschauern erst auf den letzten Kilometern etwas Wind auf. Auch in punkto Masse
gab es beim 25. Chicago-Marathon einen Rekord: 37.500 Athleten aus 66 Nationen
hatten gemeldet, etwa 28.000 wurden im Ziel erwartet. Zumindest bezüglich
der Masse bleibt London damit die Nummer eins. Hier erreichten im April knapp
über 30.000 Läufer das Ziel.
Paula Radcliffe krönte in Chicago ein großartiges Jahr.
Angefangen hatte es mit ihrem Sieg bei der Cross-WM im März. Im April
folgte ihr Triumph beim Marathon-Debüt in London, wo sie mit 2:18:56
Stunden auf Anhieb die zweitschnellste bis dahin gelaufene Zeit erzielt hatte.
Auch auf der Bahn gewann Paula Radcliffe, die in früheren Jahren so oft
große Finals als große Verliererin beendet hatte, ihre ersten
Titel: Bei den Commonwealth Games in Manchester siegte sie über 5000 m,
bei den Europameisterschafen in München über 10.000 m in
Europarekordzeit. Nun folgte als krönender Abschluss die
Marathon-Weltbestzeit. Erst gut ein Jahr ist es her, da rannte Naoko Takahashi
(Japan) in Berlin als erste Frau unter 2:20 Stunden (2:19:46). Nach dem
Durchbruch dieser Barriere gibt es nun schon fünf Zeiten unter 2:20. Je
zwei davon erzielten Radcliffe und Ndereba. Es hat sich bestätigt, dass
nach einem Durchbruch einer Barriere schnell weitere Verbesserungen
möglich sind. Im Marathon hatte die internationale Frauenspitze lange Zeit
Nachholbedarf. Nun darf man gespannt sein, wie lange Paula Radcliffes
glänzende Vorgabe hält.
Angesichts der Vorleistungen von Paula Radcliffe konnte die Weltbestzeit
nicht wirklich überraschen. Sowohl ihr Ehemann und Manager als auch ihr
Physiotherapeut Gerard Hartmann hatten eine Zeit von 2:17:30 Stunden als
mögliches Ergebnis vorhergesagt. Und in den britischen Medien wurden in
den letzten Tagen vor dem Rennen immer wieder verschiedenste Insider zitiert,
die Zeiten zwischen 2:15 und 2:18 Stunden für möglich hielten. Nur
Paula Radcliffe selbst hielt sich öffentlich zurück: "Ich
weiß, dass ich schneller laufen kann als in London, aber in einem derart
hochkarätigen Rennen geht es in erster Linie darum, meine Siegserie dieses
Jahres fortzusetzen."
Umrahmt von einer Männergruppe, darunter ein Tempomacher, war Paula
Radcliffe von Beginn an ein hohes Tempo gelaufen. Doch trotz der
Geschwindigkeit, die schon auf den ersten Meilen auf eine Zeit um 2:18 Stunden
hinauslief, war die 28-Jährige nicht alleine. Catherine Ndereba sowie die
beiden Japanerinnen Yoko Shibui und Masako Chiba liefen wenige Meter hinter
ihr. Nach 49:00 Minuten hatte Paula Radcliffe die 15-km-Marke erreicht, und
erst danach fielen ihre Konkurrentinnen nach und nach zurück. Bei der
Halbmarathonmarke (69:05 Minuten) hatte Paula Radcliffe in der Kälte ihre
Mütze verloren und Catherine Ndereba etwa 50 Meter zur führenden
Britin. Zwischenzeitlich hatte die Kenianerin den Abstand noch einmal etwas
verkürzen können, doch mit mehreren Meilenzeiten von 5:10 Minuten
sorgte Paula Radcliffe dann für die Vorentscheidung. Wie schon bei ihrem
Debüt in London lief sie die zweite Hälfte schneller als die erste.
Dieses Mal benötigte sie dafür 68:13 Minuten. "Ich hatte mich
auf der ersten Hälfte etwas zurückgehalten und hoffte auf eine
schnellere zweite Hälfte", erklärte Paula Radcliffe später
und berichtete von einer Schwächephase bei Kilometer 35: "Da dachte
ich: Oh, nein. Denn ich musste auf Toilette und fürchtete, dass ich
anhalten müsste. Aber es ging dann doch ohne Toilettenpause."
Während Paula Radcliffe die Rekordsumme von 250.000 Dollar verdiente -
100.000 Dollar für den Sieg, 150.000 für die Weltbestzeit -, musste
sich Khalid Khannouchi mit 175.000 Dollar zufrieden geben. Zum vierten Mal nach
1997, 1999 und 2000 gewann der gebürtige Marokkaner den Chicago-Marathon.
"Chicago hat etwas magisches für mich", sagte Khannouchi, der
sich in einer anfangs großen Führungsgruppe lange Zeit
zurückgehalten hatte und die Halbmarathonmarke nach schnellen 62:35
Minuten erreicht hatte.
Wie bei seinem Sieg 1999, als er seine erste Weltbestzeit von 2:05:42
Stunden gelaufen war, sorgte der 30-Jährige für die Entscheidung beim
Durchlaufen eines Tunnels mit Höhenunterschieden. Als es etwa bei
Kilometer 40 bergab ging, hatte Khannouchi aufgeschlossen zum überraschend
starken Japaner Toshinari Takaoka, als es nach dem Tunnel wieder aufwärts
ging, führte der Amerikaner. 1999 hatte Moses Tanui an dieser Stelle das
Rennen verloren, nun also der Japaner, der mit einer Bestzeit von 2:09:41
Stunden nach Chicago gekommen war und mit glänzenden 2:06:16 nach Hause
fährt. Dies reichte am Ende jedoch nur noch für Platz drei, weil der
zeitgleiche Kenianer Daniel Njenga, der zuvor nur 2:11:01 gelaufen war, im
Spurt knapp vor Takaoka lag. Wiederum eine glänzende Zeit lief Paul Tergat
(Kenia), doch seine 2:06:18 Stunden reichten dieses Mal nur für Platz vier
- auch das gab es noch nie in der Marathonhistorie. Und Paul Tergat wartet
weiter auf seinen ersten großen Marathonsieg.