Newsarchiv

Newsarchiv

Olympia-Laufserie (X): Marathon mit Paula Radcliffe

DIE SITUATION:

Paula Radcliffe ist immer ein Vorbild gewesen. Der erste Erfolg auf

internationalem Niveau kam 1992, als sie in Boston die Chinesin Wang Junxia bei

der Crosslauf-WM besiegte und den Junioren-Titel gewann. Im nächsten Jahr

hatte Wang für Schlagzeilen gesorgt, als sie und die anderen Chinesinnen

vom umstrittenen Trainer Ma Junren Weltrekorde aufstellten sowie Goldmedaillen

bei den WM in Stuttgart abräumten.

"right" />Im Gegensatz zu den Chinesinnen ist die Geschichte von der wohl

besten Langestreckenläuferin aller Zeiten ein musterhaftes Beispiel einer

gleichmäßigen Entwicklung bis zum heutigen Tag. Als Weltrekordlerin

im Marathon steht sie nun an der Schwelle zum olympischen Triumph.

Wenn die 30-Jährige an den Start des olympischen Rennens am 22. August

geht, ist es auch die Frage, ob die Favoritenbürde zu schwer wiegen wird.

Von ihrer bisherigen Karriere aus gesehen, muss man die Frage eigentlich mit

einem klaren "Nein" beantworten. Aber es werden andere starke

Läuferinnen am Start sein: Die beiden Kenianerinnen Margaret Okayo und

Catherine Ndereba oder auch die Japanerinnen.

PAULA RADCLIFFE – HIMMEL UND HÖLLE IN BEWEGUNG

SETZEN

Das „Laufteam Radcliffe" stand immer auf stabiler Basis: Schon

vor den Backfischjahren trainierte sie unter dem Ehepaar Rose und Alex Stanton.

In den letzten Jahren hat ihr Ehemann Gary Lough, ehemaliger

Mittelstreckenläufer von internationalem Rang, eine wichtige Rolle als

Trainingspartner und Manager gespielt.

Radcliffe läuft immer noch für ihren alten Klub, Bedford and

County. Bedford ist eine Stadt, die sich cirka 80 km nördlich von London

befindet. Es gibt dort eine kameradschaftliche Atmosphäre mit Schwerpunkt

Cross-Lauf im Winter, Bahn und Straße im Sommer. Dank dem Ehepaar Stanton

hat Radcliffe als Juniorin eine klassische Erziehung in der Leichtathletik

gehabt. Akademisch hat sie sich auch bewiesen, als sie in der

Loughborough University mit einer 1 in Fremdsprachen (Französisch und

Deutsch) promovierte. In den späten siebziger Jahren hat ein gewisser

Sebastian Coe Politologie und Wirtschaftswissenschaften an derselben Uni

studiert.

Versagen gibt die Gelegenheit, neu anzufangen. Es klingt vielleicht zu

kritisch, wenn man sagt, dass Radcliffe vor dem Frühling 2001 mehr

versagte als Erfolg hatte, wenn es um Medaillen ging. Auf der Bahn hatte sie

einen Ruf als die ewige Zweite, Dritte, Vierte usw. Nur bei der WM ’99

hatte das Drama etwas anders ausgesehen, als Radcliffe die Silbermedaille

hinter Gete Wami (Äthiopien) über 10.000 Meter gewann. Ansonsten

fehlte es ihr am Killerspurt in den Schlussphasen: Vierte Plätze bei den

Olympischen Spielen sowie den Weltmeisterschaften 2001.

Mit dem ersten Sieg bei der Cross-WM kam der

Wendepunkt.

Das war im März 2001 in Oostende, Belgien. Ein Jahr später

verteidigte sie den Titel in Dublin und innerhalb von drei Wochen schrieb sie

Geschichte als die schnellste Marathon-Debütantin mit der zweitschnellsten

Zeit aller Zeiten: Radcliffe gewann in London mit einer verblüffenden

2:18:56. Sie hatte ihre wahre Strecke entdeckt!

In der Freiluftsaison lief sie dann auch souverän: Sie gewann zuerst

den Commonwealth-Titel über 5000 Meter in Manchester, dann siegte bei der

EM über 10000 Meter in München mit 30:01,09; nur Wang Junxia, die

Rivalin von vor zehn Jahren, ist je schneller gelaufen.

Paula Radcliffe machte ihr Meisterstück beim

Flora-London-Marathon 2003, indem sie ihren eigenen Weltrekord mit 2:15:25 um

fast zwei Minuten verbesserte. Seitdem lief es nicht perfekt, sie

musste auf die WM 2003 in Paris verzichten, da sie sich nach Krankheit und

Hüftverletzung nicht in Topform fühlte. 2004 gab es eine Niederlage,

als die ehemalige Kenianerin Lornah Kiplagat, die jetzt für die

Niederlande startet, Radcliffe beim „World Best 10 km" in Puerto

Rico bezwang. Kurz danach musste sie wegen eines Leistenproblems operiert

werden, aber sie hat sich bestens erholt: Im Juni beim Europokal in polnischen

Bydgoszcz lief sie 14:29,11 Minuten über 5000 Meter, die drittbeste

Leistung aller Zeiten.

Wer kann Radcliffe in Athen schlagen?

Die Strecke geht auf und ab, da wird natürlich kein Weltrekord gelaufen

– und die Hitze kommt hinzu. Wenn sie sich für den Marathon

entscheidet, dann hat vielleicht Lornah Kiplagat eine Chance, solange sie die

Form vom Frühjahr hält. Catherine Ndereba könnte eine Medaille

gewinnen, ebenfalls Margaret Okayo, die zuletzt in London gesiegt hat. Das

japanische Triumvirat mit Reiko Tosa, Mizuki Noguchi und Naoko Sakamoto wird

sehr stark sein. Aber wenn Paula Radcliffe in Form ist, werden die Briten wohl

ihre erste Goldmedaille im olympischen Marathon bejubeln können.