DIE SITUATION
Reifen kann man vielleicht mehrmals im sportlichen Leben. Nach ihrem Triumph
bei den Weltmeisterschaften 2003 in Paris ist Berhane Adere die klare Favoritin
für den olympischen Titel, da viele Hinweise deuten darauf, dass die
Britin Paula Radcliffe den Marathon der Bahn in Athen vorziehen wird.
Es fällt schwer, andere Rivalen auf das gleiche Niveau zu setzen,
besonders wenn man sich an Aderes knapp über 30 beeindruckende Minuten im
Stade de France erinnert. Ihre Landsfrau Derartu Tulu hat den olympischen Titel
in Sydney gewonnen. Werknesh Kidane, ebenfalls aus Äthiopien, war
WM-Zweite und Sun Yingjie aus China wurde Dritte in Paris 2003. Aber Adere, die
ihren 31. Geburtstag einen Monat vor dem olympischen Auftakt feiert, bleibt die
Nummer eins.
BERHANE ADERE – EINMALIG IN PARIS
Sie ist schon immer eine gute Läuferin gewesen, gewann afrikanische
Titel auf der Bahn bereits vor 10 Jahren. Aber mit ihrem Sieg im
10.000-m-Rennen schrieb sie bei der WM 2003 ein Stück Geschichte. Adere
lief 30:04,18 Minuten, die drittschnellste Zeit aller Zeiten, afrikanischen
Rekord und schaffte eine persönliche Verbesserung um 45 Sekunden. In
schnellem, hartem Tempo hatte Sun Yinjie die 4.000 m passiert. Sofort durch
ihren Laufstil erkennbar – die Arme fast beweglos – zeigte die
Chinesin, dass sie eine gefährliche Gegnerin ist. An der Spitze waren Sun,
Adere und die ehemalige Kenianerin Lornah Kiplagat, die jetzt für die
Niederlande startet. Bei 6.000 m hatte die amtierende Weltmeisterin Derartu
Tulu wegen Magenkrämpfen aufgegeben. Adere und die anderen (Sun, Kiplagat
und Werknesh Kidane, die Cross-Weltmeisterin über 8km) waren sowieso
weg.
Adere, Sun und Kidane gingen in die letzte Runde. 300 Meter vor dem Ziel
griff Adere an und war nicht zu schlagen. Auf den Plätzen zwei bis 16
waren nie zuvor über 10.000 m der Frauen so gute Zeiten gelaufen worden.
Als Siebente stellte die Chinesin Xing Huina einen Juniorinnen-Weltrekord mit
30:31,55 auf.
Kann Berhane Adere es wieder schaffen? Im Vergleich zu den
Weltmeisterschaften, zeigt ihre Laufbahn bis jetzt wenig Erfolg bei Olympia:
nur 18. Platz über 10,000 m in Atlanta und Rang 12 in Sydney 2000. Nach
dem Millennium fand sie ein neues Leistungsniveau. Seit der Silbermedaille bei
der WM 2001 in Edmonton kam auch Erfolg auf der Straße: Adere gewann 2002
den Halbmarathon-WM-Titel und im folgenden Jahr kam sie als Zweite hinter Paula
Radcliffe ins Ziel. Auch in der Halle war fast eine neue Läuferin zu
sehen, mit Gold und Silber bei den Weltmeisterschaften 2003 und 2004. Zweimal
hat sie Hallenweltrekorde aufgestellt.
Der Weg nach Olympia ist selten ohne Schwierigkeiten. Doch es spricht
manches dafür, dass Berhane Adere einen olympischen Titel mit nach Hause
nehmen wird.