Für Kathrin Weßel könnte es im Tiergarten der Höhepunkt
ihres Abschiedsjahres gewesen sein. Denn nachdem die Berlinerin das Ende ihrer
Karriere nach dieser Saison angekündigt hatte, lief sie bei der 21.
Auflage des AVON RUNNING Berliner Frauenlauf als Siegerin ins Ziel. Nach 33:51
Minuten hatte Kathrin Weßel (SC Charlottenburg) das 10-km-Rennen vor der
vermeintlichen Favoritin Claudia Dreher (Gänsefurther Sportbewegung/34:23)
gewonnen. Dass die 36-Jährige, die auf den Bahn-Langstrecken über
mehrere Jahre hinweg zur Weltspitze zählte, in den nächsten Monaten
noch einmal einen Lauf dieser Dimension gewinnen kann, ist unwahrscheinlich.
Alles zusammen 11.142 Frauen und Mädchen waren beim größten
deutschen Frauenlauf am Start. Mit dieser Rekordzahl ist das Rennen die
größte deutsche Frauen-Fitnessveranstaltung.
Es hat allerdings lange gedauert, bis es so weit kam, die Entwicklung war
nicht einfach. Mit 645 Läuferinnen wurde vor 20 Jahren der erste AVON
RUNNING Berliner Frauenlauf gestartet. Das war nicht jedermanns Sache.
„Als wir 1984 den Frauenlauf initiierten, bekamen wir böse Briefe
von Männern, die uns fragten, wie wir dazu kämen, einen Lauf nur
für Frauen zu veranstalten“, erzählt der langjährige
Organisationschef Horst Milde, der diesen Posten vor kurzem an seinen Sohn Mark
abgab. „Die Entwicklung zeigt, dass sich unser Engagement gelohnt hat.
Immer mehr Frauen erkennen, dass man durch das Laufen ein anderes, besseres
Lebensgefühl bekommt“, sagt Horst Milde.
1997 zählte Veranstalter SCC-RUNNING erstmals die Zahl von 2000 Frauen
und Mädchen. Weitere zwei Jahre später gab es einen echten
Aufwärtstrend, als sich die Teilnehmerzahl mit 4362 fast verdoppelt hatte.
Seitdem läuft es. Und im vergangenen Jahr rannte erstmals eine
fünfstellige Zahl durch den Tiergarten. „Ich bin jetzt sechs Jahre
in Folge beim Frauenlauf an den Start gegangen und habe die Entwicklung genau
mitbekommen – es ist beeindruckend“, erzählt Kathrin
Weßel und fügt hinzu: „Obwohl ich meine Karriere beende, kann
ich mir gut vorstellen, auch in Zukunft bei diesem Rennen
mitzulaufen.“
Die internationale Karriere der Kathrin Weßel ist fast so lang wie die
Geschichte des AVON RUNNING Berliner Frauenlauf, der vor 20 Jahren im
westlichen Berlin begann. Ein Jahr später rannte sie unter ihrem
Mädchennamen Kathrin Ullrich zum ersten Mal im Trikot der DDR bei den
Junioren-Europameisterschaften. Damals wurde sie Achte im 3000-m-Finale. Zwei
Jahre später zählte sie bereits zur Weltklasse und gewann bei den
Weltmeisterschaften in Rom über 10.000 Meter die Bronzemedaille. Drei
Jahre später wurde sie Vize-Europameisterin über diese Distanz. Ihre
Bestzeit von 31:03,62 Minuten steht noch heute als deutscher Rekord. Noch einen
anderen ,Rekord’ stellte die Berlinerin über 10.000 m auf: Zehnmal
in Folge gewann sie den nationalen Titel über diese Strecke, von 1987 bis
1996.
Doch die beste deutsche Bahn-Langstreckenläuferin aller Zeiten konnte
ihre Klasse nie auf die Marathondistanz transformieren. Zwar hatte sie auch als
Straßenläuferin Erfolge, doch der Sprung in die Weltklasse gelang
nicht. Nachdem sie der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) 2002 aus schwer
nachvollziehbaren Gründen aus dem Nationalkader gestrichen hatte, wurden
die Rahmenbedingungen für den Beruf Langstreckenlauf noch schwerer.
Heute sagt Kathrin Weßel, Mutter einer vierjährigen Tochter:
„Nach einer so langen Karriere fällt es mir zunehmend schwerer, das
ganze Leben nach dem Sport zu richten.“ Die 36-jährige wird noch ein
paar kürzere Straßenläufe rennen. Ob sie sich für einen
letzten Marathon vorbereitet, steht noch nicht fest. Sicherer erscheint ihr
Start beim 22. AVON RUNNING Berliner Frauenlauf. Dann ist der Sport aber nur
noch ein Hobby.