Wer ambitioniert läuft, für den ist ein Marathon keine
Besichtigungstour. Unser Redakteur war Teil eines gut vorbereiteten
Unternehmens.
Wir trafen uns am Alexanderplatz, hatten uns lange nicht mehr
gesehen. Er hatte sich kaum verändert. Was hatte ich erwartet?
Bauchansatz, wabernder Hüftspeck? Doch nicht bei George! Er war jetzt
71, hatte die Figur eines… na ja, eines Marathonläufers eben. Nicht
irgendeines Läufers, sondern eher die eines Elite- als eines
Freizeitläufers. Mit 71 Jahren wohlgemerkt.
Langsam bummelten wir vom Alex Richtung Nikolaiviertel. Wenn er
schon extra aus New York zum Marathon kam und noch nie in Berlin war,
sollte er doch wenigstens etwas von der Stadt gesehen haben,
dachten wir. Er eher nicht. Er war aus New York nicht nach Berlin,
sondern zum BERLIN-MARATHON gekommen, dem Marathon mit der schnellsten
Marathonstrecke der Welt – »probably«, wie er anmerkte. Er wollte es
auf die Probe stellen. Und deshalb interessierten ihn an diesem
Freitag die Wettervorhersagen für den kommenden Sonntag deutlich
mehr als die Tatsache, dass der Alexanderplatz mal das Zentrum Berlins
war oder die Nikolaikirche die älteste Kirche in Berlin ist. Nicht,
dass George ungebildet oder politisch uninteressiert wäre, im
Gegenteil. Er hat vor Jahrzehnten auf einer Eliteuniversität studiert
und schon auf dem demokratischen Ticket um einen Sitz im amerikanischen
Kongress gekämpft. Vor allem aber hat er als einer der ersten auf
diesem Planeten sein Hobby, das Laufen, zu seinem Beruf gemacht. Es
gibt kaum jemanden, den ich in all den Jahren, die ich selbst laufe,
traf, der dieses Laufen so beeindruckend »lebte« wie George.
Vorbereitungen
Am Samstagnachmittag trafen wir uns in der Lobby seines Hotels,
nicht etwa um die Sightseeing-Pläne für den Sonntag zu spinnen – wir
hatten es noch nicht aufgegeben: »wenigstens Reichstag und Kanzleramt«
–, sondern, um die Marschtabelle fürs Rennen festzulegen. Wir
fachsimpelten über Getränkestationen, Glukose-Gels, Zwischenzeiten, die
richtige Laufausrüstung und schließlich seine Ziele. Eigentlich waren
alle nahezu identisch: 3:34 Stunden, die Johnny Kelly als 70-jähriger
rannte, 3:34, die Kelly als 71-jähriger rannte, und 3:34, die aktuell
schnellste Marathonzeit eines über Siebzigjährigen in den USA. Noch
Fragen?
Ich atmete dreimal tief durch. George wollte es also wissen:
Jonny Kelly (1907–2004) vom Thron stoßen, das war gewagt. An
diese amerikanische Lauflegende traut man sich nicht »mal so eben« ran.
Kelly hatte 1935 und 1945 den legendären Boston-Marathon gewonnen,
wurde dort weitere siebenmal Zweiter, startete bei drei olympischen
Spielen (1936, 1940, 1948) und nahm insgesamt an 61 Boston-Marathons
teil. Johnny A. Kelly beeindruckte auch im Alter noch durch großartige
Zeiten und lief seinen letzten Boston-Marathon mit 84 Jahren. Und jetzt
also George (und ich) auf seinen Spuren. Ich unterstützte seine Pläne
für den Samstag sofort: Beine hochlegen und ruhen. Kanzleramt und
Rechstag vom Programm gestrichen.
Vom Start weg mit Tunnelblick
Am Marathonmorgen standen wir in unserem Block ganz vorne, aber
George bestand darauf, möglichst ganz am Rand zu warten, da er
befürchtete, nicht in die Gänge zu kommen und die Nachläufer zu
behindern. Die Atmosphäre war gigantisch, und ich sah, dass sie auch
ihn beeindruckte. George wollte nach zwei Teilnahmen in Chicago 2002
und 2003 schon letztes Jahr in Berlin laufen, aber eine Verletzung
verhinderte dies. Er wusste natürlich um den guten Ruf des
Marathons, aber diese Stimmung überraschte ihn. Rhythmisches Klatschen
bis zum Startschuss, wir machten nicht mit. George hatte schon den
Tunnelblick.
Startschuss! Wir kamen tatsächlich nur langsam los, aber drängten uns
an den Rand der Strecke. Ich gab ihm zunächst nur Geleitschutz, doch
schon der erste Kilometer passte: 5:09 Minuten. Ab Ernst-Reuter-Platz
(2,3 km) nahm er Fahrt auf, und ich merkte, dass es da wohl auch noch
ein viertes »Goal« gab: unter 3:30 Stunden. Vergessen waren die Zweifel
vom Morgen, als er, den Blick zur strahlenden Sonne gerichtet, mir
vorsichtig zu erklären versuchte, dass…, wenn… er seiner Frau
versprochen hätte, frühzeitig das Rennen zu beenden und es nicht zu
übertreiben: »You know Chicago could be another chance.« Aber jetzt:
Nichts Chicago, George trieb mich vehement voran. Kanzleramt und
Reichstag (6,6 km) konnten uns gestohlen bleiben, und wir steuerten
trotz steigender Temperaturen geradewegs auf unsere Ziele zu.
Beeindruckende Zuschauer
Die Zuschauermenge war beeindruckend, und ich versuchte, wie man es
halt immer tut, diese Stimmung mit der vom letzten Jahr, mit der vom
Hamburg-Marathon, mit der beim New York-, beim Wien-, beim XY-Marathon
zu vergleichen. Natürlich war sie dieses Jahr die beste überhaupt,
gerade so, wie ich dies auch im Frühjahr in Hamburg oder letztes Jahr
in Berlin empfunden hatte. Ist doch klar: Immer dort, wo man gerade
unterwegs ist, ist die Stimmung am besten. George schien darüber nicht
nachzudenken, er machte es besser, denn er schien die Anfeuerung der
Zuschauer einfach nur aufzusaugen und – noch besser – sofort in Energie
umzusetzen. »Was sollte ihn auch schon noch beeindrucken?« dachte ich.
Aber wenig später, in einer Autobahnunterführung, in der das
rhythmische Trommeln einer Band von den Wänden laut zurückgeworfen
wurde, und die Zuschauer dazu im Takt schrien, schaute auch George kurz
zu meiner Seite und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er war
dabei!
Jede kleine Steigung machte ihm Mühe, und davon gibt es in Berlin zum
Glück nur wenige. Sobald es irgendwo auch nur einige Höhenmeter zu
überwinden galt, nahm er das Tempo stark zurück, dafür ließ er es
»abwärts« richtig knallen. Mir fiel dies irgendwo zwischen Kilometer
acht und neun auf und ich ließ mich unmerklich zurückfallen, um seinen
Laufstil in Ruhe zu studieren. Dabei fielen mir seine »Spatzenwaden«
auf, die jedem afrikanischen Weltklasseläufer zu Ehren gereicht hätten.
»Next winter you have to do some strength training« würde ich ihm im
Ziel empfehlen wollen, aber mir wurde später klar, dass das Alter
einfach mehr Muskel- als Lungenkraft kostet. George war das schon lange
klar, und deshalb sparte er die Kraft, wo er konnte. Sehr weise.
Im Fünferschnitt durch Berlin
Wir hatten uns auf einen Kilometerschnitt von knapp unter fünf
Minuten eingependelt und hinterm Alexanderplatz (11 km), irgendwo bei
Kilometer 12, wechselten wir zum ersten Mal mehr als ein Wort, nämlich
deren zwei: »It’s unbelievable«, sagte er. Was er meinte, wusste ich
nicht, denn wir hatten gerade eine eher zuschauerärmere Passage hinter
uns, wo die Stimmung gut, aber nicht überschäumend war. Ich hoffte,
dass er seine körperliche Verfassung beschrieb, eventuell auch die
Zwischenzeiten, guckte fragend zu ihm hinüber, er aber schon wieder
leicht vornübergebeugt auf die Straße. Hand aufs Herz: Nie zuvor hatte
ich einen Läufer begleitet, der solch eine positive Ausstrahlung besaß,
ohne sein Gut-Gefühl permanent mitteilen zu müssen. Einfach einer, der
ohne überschwengliche Emotionsausbrüche, durch Mimik und Habitus,
mitteilte: es gefällt mir, ihr gefallt mir, ich gefalle mir.
Es war auch in unserem Zeitbereich immer eng. Ich war – wie eigentlich
jedes Jahr in Berlin – überrascht, wie viele Läufer bei uns in
Deutschland unter vier Stunden laufen können. »Wahnsinn«, dachte ich
und schaute mich um, und als ob George meine Gedanken hätte lesen
können, rückte er ein wenig von mir ab, um mir Freiheit zum Umblick zu
geben. Aber ich suchte irgendwie immer seine Nähe, kam ihm sogar oft zu
nahe, stieß ihn immer wieder mal unbeabsichtigt mit meinen Armen an,
gerade so, als ob ich ihn beschützen müsste. Von wegen: Er
knallte im Fünf-Minuten-Tempo neben mir her. Mit 71 Jahren. Der
brauchte keinen Schutzengel.
Kein Sightseeing, volle Konzentration
»Ich bin ein Berliner.« Den berühmten Satz des US-Präsidenten John
F. Kennedy anno 1963 hätte ich loswerden müssen, als wir am Rathaus
Schöneberg (23 km) vorbeikamen, ich weiß. Aber ich wollte einfach
nicht. »George war damals 29 Jahre alt«, dachte ich, »und ist jetzt alt
genug, zu fragen, wenn ihn etwas interessiert.« Und es schien mir auch,
dass er sich mittlerweile komplett in sich zurückgezogen hatte und ihn
meine Versuche einer Ansprache nervten. Ich konzentrierte mich also
darauf, die Kilometerzeiten anzusagen, in Meilen umzurechnen, an
Verpflegungsstellen über Blickkontakt und mit kurzen Wortfetzen, die
Versorgungslage abzuklären und ansonsten meine Klappe zu halten. Ich
machte mir klar, dass er genoss: die tolle Stimmung, Atmosphäre,
Strecke, aber vor allem, dass es bei ihm lief, richtig gut lief.
Ich stellte mir vor, wie man die Sieger Philip Manyim oder Mizuki
Noguchi im Ziel etwas über die Sehenswürdigkeiten entlang der Strecke
fragen würde.
Was würden sie antworten? Ganz diplomatisch würden sie
vielleicht sagen, dass sie gehört hätten, dass Berlin eine interessante
Stadt sei, und sie würden weiter ausführen, dass beim nächsten Mal,
wenn sie wiederkämen, dann, dann würden sie sich die Sehenswürdigkeiten
bestimmt auch alle anschauen. Ebenso ging es wohl auch George. Er war
verdammt nochmal ein Eliteläufer, einer, der zu den besten seiner
Altersklasse in der Welt gehört, einer, der der schnellste Amerikaner
seiner Altersgruppe werden wollte, hier und jetzt. Ich ließ ihn in Ruhe.
Angefeuert vom Olympiasieger
Die Temperaturen stiegen über 20 Grad und die Läufer begannen zu
stöhnen. Auch George zollte jetzt dem Temperaturanstieg Tribut und wir
hatten zunehmend Mühe, den Kilometerschnitt zu halten. Nicht dass wir
darüber sprachen, aber es fehlten uns immer öfter hier und da ein paar
Sekunden. Am »Wilden Eber« (28 km) war die Atmosphäre gigantisch. Es
gibt weltweit kaum einen Marathonkilometerpunkt, der stimmungsvoller
ist. Ich schaute zu George, er hatte den Kopf gehoben, schaute sich um
und grinste. Ja, er grinste. Ein untrügliches Zeichen – das hatte ich
inzwischen gelernt –, dass hier etwas Überwältigendes passierte. Die
Samba-Band knallte ihre Rhythmen in die Trommeln, die Zuschauer
kreischten und George schien gerührt, blieb aber fokussiert.
Ein wenig aus dem Konzept brachte ihn nur Dieter Baumann. Der
Olympiasieger wartete am Wilden Eber auf seinen Fernsehauftritt, sah
George und ließ es sich nicht nehmen, sich neben den »Grand old man« zu
schieben und ein paar Meter mitzulaufen. George freute sich sichtlich.
Er bewunderte Topläufer schon immer für ihre Leistungsfähigkeit,
unterstützte sie als Vorbilder für die Freizeitläufer, aber deckelte
sie auch, wenn sie Starallüren entwickelten.
„I feel it“: Die Beine machen sich bemerkbar
Auf dem Ku’damm (33 km) wurde George redselig: »I feel it.« sagte er
und deutete auf seine Beine. Es war mir egal, denn wir verloren
weiterhin nur wenig an Zeit. Aber im Angesicht der Gedächtniskirche (34
km) begann ich wieder ab und zu zu plappern. Ich dachte, dass es ihn
vielleicht ablenken würde, eventuell aufregen, dann eben auch anregen.
Vom KaDeWe (35 km) bis zum Potsdamer Platz (37,3 km) spielte ich den
Reiseführer und zollte innerlich dem Veranstalter größten Respekt, der
bei der Streckenführung nichts, aber auch gar nichts ausließ. George
hätte dies auch getan, aber es lag inzwischen die Last von 38
Kilometern auf seinen Schultern. Er lief vornübergebeugt ganz rechts am
Rande der Strecke, direkt an den Zuschauern vorbei. Es schien, dass er
sich an den Absperrgittern orientierte, da es ihm schwer fiel, den
Blick nach oben-vorne zu richten. Man hörte kein Schnaufen, sah ihm an,
dass Herz und Kreislauf nicht ausgelastet waren, aber die Muskeln
einfach mit jedem Schritt müder wurden.
Endspurt
Am Berliner Dom (40,5 km) ging ein Ruck durch seinen Körper und er
zog noch einmal das Tempo an, richtig an. Ich sah mich bemüßigt,
ihm naseweis zuzurufen »Don’t push it too hard...«, und er reagierte
sogar darauf. Ich glaube, dass er wie ich daran dachte, was bei seinem
letzten Marathon passierte: In Chicago vor zwei Jahren kam er auf den
letzten hundert Metern noch zu Fall – mit blutigen Folgen.
Erst das Brandenburger Tor im Blick, konnte ich es mir dann doch nicht
nehmen lassen, ihn noch einmal richtig anzufeuern. Und er stob davon.
Durch den rechtesten Durchgang des Tores flog er dahin mit
raumgreifendem Schritt, ganz knapp an den Tribünen vorbei, ein
Endspurt zum Sieg.
Und was für ein Sieg. Für ihn.
Für mich eine Inspiration.
Martin Grüning
George Hirsch gewann in 3:31:55 Stunden die Altersklasse M70 mit
elf Minuten Vorsprung und belegte im Gesamtklassement Platz 5.000 von
30:584 Teilnehmern im Ziel.