Der Literatur-Marathon gehört seit über einem Jahrzehnt zum
umfangreichen Rahmenprogramm des real,- BERLIN-MARATHON. Dr. Detlef Kuhlmann,
Dozent am Institut für Sportwissenschaft der FU Berlin und Professor und
Lehrstuhlvertreter für Sportpädagogik am Institut für
Sportwissenschaft der Universität Regensburg, organisiert und leitet von
Beginn an diesen Teil des Programms am Marathonwochenende in Berlin Er
motivierte auch Teilnehmer des real,- BERLIN-MARATHON ihre Erlebnisse und
Gefühle beim Lauf durch die City niederzuschreiben - und bat
zusätzlich Prominente ihre Ansichte und Gedanken über den real,-
BERLIN-MARATHON zu Papier zu bringen. Wir veröffentlichen diese Texte in
loser Reihenfolge.
Marathon boomt. Jedes Jahr kommen Läuferinnen und Läufer neu
hinzu, die zum ersten mal die 42,195 km auf sich nehmen. Beim real,-
BERLIN-MARATHON starten allein jährlich mehrere Tausend zum ersten Mal bei
einem Marathon. Dieser Premieren-Marathon stellt einen Einschnitt in der
Laufkarriere eines jeden einzelnen dar. Wir haben 999 Debütantinnen und
Debütanten gebeten, einen kleinen Aufsatz zu schreiben zum Thema
"Mein erster Berlin-Marathon":
Sven Goldmann (Jahrgang 1964), leitete das Ressort Sport beim
"Tagesspiegel" Berlin):
Monika war Schuld. Monika war damals, im Sommer 1981, das schönste
Mädchen der Welt (auch wenn ein paar neidische Mitschüler in meiner
elften Klasse das ganz anders sahen). Ich weiß nicht mehr, warum ich
ausgerechnet mit ihr über den BERLIN-MARATHON gesprochen habe, denn Monika
hatte nicht viel übrig für diesen Sport. Vielleicht war sie gerade
deshalb so beeindruckt: 42 Kilometer, alles an einem Tag, und dann auch noch
auf Asphalt. "Das schaffst du nie!", sagte Monika.
Heute ahne ich, daß sie mich provozieren wollte. Ich war ein dankbares
Opfer. 42 Kilometer? Lächerlich! Zur Vorbereitung werde ich im Urlaub ein
paar Mal um diese Insel laufen, auf der ich mit meinen Eltern die Sommerferien
verbringen wollte. Sardinien hatte in meiner damaligen Begriffswelt
ungefähr die Größe der Pfaueninsel - ein
Mißverständnis, an das Monika mich nach meiner Rückkehr auf
ziemlich kleinliche Weise immer wieder erinnerte.
Es kam der erste Berliner Stadtmarathon, und ich fühlte mich nach gut
fünfwöchiger Vorbereitung in bester Verfassung. Der Lauf wurde um 9
Uhr am Reichstag gestartet. Ich war pünktlich um fünf vor neun da und
wunderte mich ein wenig über die vielen Leute, die noch früher
gekommen waren. Als es dann losging, ging erst mal gar nichts. Menschen
über Menschen stauten sich vor mir, und ich nahm mir vor, später von
meiner Gesamtzeit zehn Minute abzuziehen. So lange muß es wohl gedauert
haben, bis ich die ersten 100 Meter geschafft hatte. Danach lief es ganz gut,
so gut, daß meine Eltern zu spät am verabredeten Streckenabschnitt
auftauchten. Sie hatten einfach noch nicht mit mir gerechnet. Überhaupt -
keiner war da, um mich anzufeuern, nicht einmal Monika, die eine Klassenfahrt
nach München offenbar wichtiger fand.
Ich habe sie dann auch nicht allzu sehr vermißt, später, als der
Regen kam und mein T-Shirt sich genauso schwer anfühlte wie meine
Oberschenkel. Wundgescheuerte Brustwarzen verhalfen mir zu der Erkenntnis,
daß es für Marathonläufe geeignetere Textilien gibt als
Baumwolle. Die Aufenthalte an den Verpflegungspunkten zögerte ich,
taktisch klug, immer mehr in die Länge. Seit diesem Sonntag weiß ich
zweierlei: 1. Der Hohenzollerndamm ist in Richtung Fehrbelliner Platz die
steilste Straße Berlins. 2. Gehen ist eine in weiten Kreisen der
Öffentlichkeit völlig zu Unrecht belächelte Sportart.
Irgendwie habe ich es dann doch bis ins Ziel geschafft, und das sogar unter
vier Stunden, wenn man die zehn Warteminuten am Start abzog. Ich war ein
einsamer Held: Nach Hause bin ich mit der U-Bahn gefahren, auch in der Schule
sind meine Entbehrungen nicht angemessen gefeiert worden. Monika hat mich ein
paar Wochen später verlassen, aber da war sie auch schon nicht mehr das
schönste Mädchen der Welt.
(BERLIN-MARATHON 1981; 4:07 Std.)
Jörg Wenig (Jahrgang 1967), Sportredakteur mit Schwerpunkt
Leichtathletik, schreibt unter anderem für den Tagesspiegel Berlin sowie
die Fachzeitschrift Leichtathletik und bearbeitet die Programmhefte des
BERLIN-MARATHON und des ISTAF Berlin:
An gute 42 Kilometer hatten wir eigentlich gar nicht gedacht. Zumal meine
ganz persönlichen Helden weder Frank Shorter noch Waldemar Cierpinski
hießen, sondern: Sebastian Coe und Steve Ovett. Doch es war die Zeit des
Testens - was schaffst du? Eine nicht ganz legale Piste unter dem Sessellift
herunterfahren, ohne dabei mangels Haltung von oben verspottet zu werden -
machen wir. Die 1000 Meter unter drei Minuten laufen - schaffen wir. Zelten
während eines Hurrikans - wir fliegen nicht weg. 25 Kilometer laufen am
Stück - machen wir. Denkste! Denn als wir diese Idee hatten, waren die
"25 km de Berlin“ gerade gelaufen. Ohne uns!
Mit weniger wollten wir uns freilich nicht zufrieden geben, und ein Jahr
warten kam nicht in Frage. Also blieb im Mai 1984 nur ein Ziel übrig: der
Marathon. Wir wußten: der konnte uns nicht weglaufen, denn er fand erst
nach den großen Ferien statt. Zum Trainingsprogramm zählte im Sommer
eine Radtour: von Brighton nach Nordwales und zurück über Liverpool
und Cambridge nach London mit Zelt und allem drum und dran - schaffen wir.
Danach hatten wir eigentlich kaum noch Respekt vor diesem BERLIN-MARATHON.
Dennoch passierte irgend etwas merkwürdiges mit André. Er
verzichtete, weil er tags darauf unbedingt seinen 18. Geburtstag feiern wollte
... - das hätten wir auch noch geschafft.
Also ging ich alleine zum Start an jenem 30. September. Von dem positiven
Effekt eines Nudelessens am Tag zuvor hatte ich schon einmal etwas gehört.
Viel mehr über eine angepaßte Ernährung habe ich erst viel
später erfahren. Doch das machte nichts. Nach einem wenig hilfreichen
Frühstück und mit genügend Traubenzucker in der Tasche machte
ich mich auf den Weg am Marathontag. Vor lauter Läufern lief am Reichstag
erst einmal gar nichts. Mein Vier-Stunden-Plan war dahin. Als bei Kilometer 25
André im strömenden Regen mit seinen Eltern wartete, hatte ich zwar
aufgeholt, doch bald kam der erste Wadenkrampf. Die Menschenmassen trieben mich
zum Steglitzer Kreisel, wo Inge unter dem Regenschirm wartete.
Aber sehr viel weiter ging es nicht mehr gut. Die Wadenkrämpfe kamen
wieder, und die Massage am Rotkreuzbus war eine Zeitverschwendung. Ich war,
verglichen mit einem Trainingsplan für Anfänger in Woche drei: Zehn
Minuten laufen, drei Minuten gehen - fünf Minuten laufen, drei Minuten
gehen - zehn Minuten und so weiter. Gehpausen - vorher dachte ich, so etwas sei
bei einem Marathon verboten und hatte Angst vor einer Disqualifikation. Doch
die realistische Folge war, daß meine Klassenkameradin Antje nicht mehr
am Hohenzollerndamm stand, als ich dort ankam. Mein Sportlehrer Sebastian hatte
mehr Geduld mit mir. Er wartete an den Uhlandstraße und schrie - doch ich
sah ihn nicht und hörte nichts mehr in diesem einzigartigen Spektakel.
Nach gut viereinhalb Stunden war ich im Ziel und sagte nicht, nie wieder.
Seitdem habe ich keinen BERLIN-MARATHON mehr verpaßt - allerdings aus
einer anderen Perspektive. Ich bin eben zu langsam, um laufen und schreiben zu
können.
(BERLIN-MARATHON 1984; 4:40 Std.)