Der Literatur-Marathon gehört seit über einem Jahrzehnt zum
umfangreichen Rahmenprogramm des real,- BERLIN-MARATHON. Dr. Detlef Kuhlmann,
Dozent am Institut für Sportwissenschaft der FU Berlin und Professor und
Lehrstuhlvertreter für Sportpädagogik am Institut für
Sportwissenschaft der Universität Regensburg, organisiert und leitet von
Beginn an diesen Teil des Programms am Marathonwochenende in Berlin Er
motivierte auch Teilnehmer des real,- BERLIN-MARATHON ihre Erlebnisse und
Gefühle beim Lauf durch die City niederzuschreiben - und bat
zusätzlich Prominente ihre Ansichte und Gedanken über den real,-
BERLIN-MARATHON zu Papier zu bringen. Wir veröffentlichen diese Texte in
loser Reihenfolge.
Marathon boomt. Jedes Jahr kommen Läuferinnen und Läufer neu
hinzu, die zum ersten mal die 42,195 km auf sich nehmen. Beim real,-
BERLIN-MARATHON starten allein jährlich mehrere Tausend zum ersten Mal bei
einem Marathon. Dieser Premieren-Marathon stellt einen Einschnitt in der
Laufkarriere eines jeden einzelnen dar. Wir haben 999 Debütantinnen und
Debütanten gebeten, einen kleinen Aufsatz zu schreiben zum Thema
"Mein erster Berlin-Marathon":
Maren Breuer (Jahrgang 1976), Studentin für Politikwissenschaft
und Sportwissenschaft an der Freien Universität Berlin:
Zur Vorgeschichte: Schon immer strahlte der Marathon eine große
Faszination auf mich aus. Seitdem hatte ich mir als vages Ziel formuliert,
einmal dabei zu sein, ohne es je systematisch angegangen zu sein. Jedes Jahr
schaute ich zu und hatte schon als Kind auswärtige Freunde meiner Eltern
mit angefeuert. Seit Jahren lief ich selbst regelmäßig zwischen
fünf und zwölf km. Dann kam der 10 km City-Nachtlauf auf dem Kudamm.
Die Zuschauer, die Musik - die Stimmung war unglaublich! Euphorisiert
erzählte ich davon einem Kommilitonen, mit dem ich am gleichen Tag per
Handschlag unsere Teilnahme am BERLIN-MARATHON besiegelte. Noch 5 Wochen - was
für ein verrücktes, aber reizvolles Unternehmen. Nie zuvor lag dieser
Lauf so greifbar vor mir. Ich war hoch motiviert und nahm im Vorfeld u.a. an
zwei Läufen über die Halbmarathondistanz und 25 km teil. Irgendwann
mußte er kommen: Der BERLIN-MARATHON 2000.
Die Masse um mich herum im letzten Starterblock grölt, jubelt,
klatscht. Schon der Hinweg in der U-Bahn war ein Erlebnis: viel Zuspruch,
anerkennende Blicke, viele andere Starter mit ihren einheitlichen
Kleiderbeuteln. Der Startschuß fällt, es passiert nichts. Langsam
kommt man ins Trippeln; meine Uhr zeigt mir einen Puls von 270. Sie scheint
überfordert von all den Signalen um uns herum. Die Startlinie zirpt unter
den vorbeifliegenden Chips für die Zeitnahme. Wir sind wirklich dabei!
Neben mir läuft mein Kommilitone Thomas. Wir bewegen uns genau in der
geplanten Zeit von 6:30 min. pro km. Es läuft super! Puls 140.
Straße des 17. Juni, Brandenburger Tor, Unter den Linden, am Alex vorbei
... eine exklusive Art von sight-seeing-tour. Gedanken kreisen: Doch eher vier
Stunden anpeilen? Oder lieber Kräfte sparen für später?
Die ersten 15 Kilometer laufen phantastisch. Ich laufe entspannt und
lächelnd. Am Anhalter Bahnhof stehen wie verabredet ein paar
persönliche Unterstützer mit Fahnen und Trillerpfeife. Bildchen
geschossen, Getränkepäckchen ausgetauscht und weitergelaufen. Durch
Kreuzberg geht es nach Neukölln, wo viele Kinder am Rand stehen und ihre
Hand ausstrecken. Ich laufe nah bei den Zuschauern und klatsche viele dieser
Hände ab. Die Kinder freuen sich, ich freue mich auch. Überhaupt
gucke ich mir recht genau die Menschen am Rand an, erkenne sogar das eine oder
andere bekannte Gesicht. Es ist ein Erlebnis! Ich genieße es - auch wenn
sich langsam die Beine bemerkbar machen. Die Versorgungspunkte sind
anstrengend. Es wird gedrängelt, die Straße ist naß und durch
Tausende von Plastikbechern zum Hindernisparcours mutiert. Ich tauche meinen
Schwamm in einen der Wasserkübel, benetze mein Gesicht, drücke den
Schwamm am Hals und Ausschnitt, auf den Armen und über dem Kopf aus, um
der ansteigenden Körperwärme entgegenzuwirken. Wie froh bin ich
über meinen Getränkegurt! So kann ich zu jeder Zeit und ohne Hast
auch spritzerweise Flüssigkeit zu mir nehmen. Ein paar Kilometer laufe ich
mit abgespreiztem rechtem Arm. Das Trikot scheuert, die wunde Stelle brennt
stark.
Mehr als die Hälfte ist geschafft. Meine Oberschenkel sind deutlich
spürbar. Noch immer genieße ich die neuen Eindrücke der Stadt
und tausche mich darüber mit meinem Begleiter aus. Ich rede häufig,
er etwas weniger. Die Strecke wird eintöniger, mir fehlt mehr Musik. So
freue ich mich schon eine halbe Stunde im voraus auf einen weiteren Treffpunkt
mit meinen Promotern am Botanischen Garten, doch kann ich sie dort und beim
nächsten Treffen nicht mehr entdecken. Wir motivieren uns dennoch, mein
Begleiter wähnt sich kurz vor einem Beinkrampf. Trotz zunehmender
Anstrengung bleibt meine Moral konstant, nie ein Gedanke ans Aufhören. Der
Wilde Eber mit seinen Sambaklängen ist passiert und auch Kilometermarke 36
- den Rest schaffen wir auch! Wir überholen viele schmerzverzerrte
Gesichter, die eine Geh- oder Stehpause einlegen. Am Fehrbelliner Platz laufen
Freundinnen von uns ein Stück mit, wir unterhalten uns und erzählen
vom bisherigen Lauf.
Dann die Zielgerade: der Kudamm. Endlich gibt es wieder mehr Zuschauer und
laute Musik. Für einen kurzen Moment verspüre ich keine Lust mehr,
erst ein Sommerhit von Britney Spears, der durch die großen Lautsprecher
tönt, beflügelt mich, läßt mich vor Freude Kreise drehen
und tanzen und trägt mich schließlich freudestrahlend über die
Zielgerade. Wahnsinn! Geschafft! Zwei Ziele gesetzt und beide erreicht:
Angekommen und ohne Pausen durchgerannt! Ich war überglücklich!
Ehrlicherweise muß ich noch hinzufügen, daß die nächsten
zwei Tage recht schmerzlich für mich waren. Doch die 42,195 km
überhaupt bestanden zu haben, das war eine große Herausforderung und
eine erstaunliche Grenzerfahrung. Dies war bestimmt nicht mein letzter
BERLIN-MARATHON! Ich habe den Lauf genossen und mir bei jedem einzelnen
Kilometer im stillen gesagt: "Du läufst wirklich den
Marathon!“
(BERLIN-MARATHON 2000; 4:50 Std.)
Andrew Clarkson (Jahrgang 1956), Engländer lebt seit1984 in
Berlin, Mitinhaber eines Handelsunternehmens:
Seit Jahren stehe ich am Marathonmorgen am Kurfürstendamm, um die
Teilnehmer mit Bewunderung anzufeuern. Jetzt war Schluß mit Zuschauen.
Nach sechs Monaten sorgfältigen Training im Verein (SCC Berlin) ging ich
mit großer Zuversicht selbst an den Start. Dieser übertraf alle
Erwartungen. Die letzten Töne von Vangelis “Conquest of
Paradise“ verklangen, die letzten 15 Sekunden wurden abgezählt, dann
der Startschuß - und 27.000 noch fröhliche Läufer bewegten sich
langsam nach vorne. Die Wettkampfstimmung stieg, und ich erlebte das erste (und
einzige!) “Runners high“, ohne einen einzigen Meter gelaufen zu
sein. Gut, daß man allein durch das Gedränge von einem zu schnellen
Anfangstempo abgehalten wurde.
In der Menschenmenge findet man nur schwer das eigene Tempo. Dies hat den
Vorteil, daß die ersten zehn km vorbei sind, bevor das Laufen richtig
beginnt, aber auch den Nachteil, daß sämtliche
Sehenswürdigkeiten des ersten Streckenteils unbeachtet bleiben. Bei km 20
hatte ich ein Schlüsselerlebnis, als ich ein Gespann von zwei Damen
überholte, die ein behindertes Kind im Rollstuhl gezogen bzw. geschoben
haben. Ansonsten nur mit meinem eigenen Lauf beschäftigt, wurde ich hier
von der Leistung dieser Damen tief beeindruckt, die diese Distanz in etwa
neunzig Minuten zurück gelegt hatten.
Die Marathon-Weisheit, daß der Lauf erst bei km 32 anfängt,
hört man immer wieder. Wenn man es selbst erlebt, gewinnt der Mythos des
Marathons an Bedeutung. Innerhalb von weniger als 1500 m verwandelte sich mein
Gemütszustand von absoluter Zuversicht, gut über die Strecke zu
kommen, in schiere Hilflosigkeit, als die Kräfte gänzlich
verschwanden, mein Tempo sich gen Null reduzierte und ich nicht mehr sicher
war, ob ich die letzten zehn km noch schaffen konnte. Eine Stunde habe ich mit
mir selbst gekämpft, keine Gehpause einzulegen, bevor ich dann endlich das
Ziel am Kurfürstendamm erreicht habe.
Die Einstellung “nie wieder Marathon“ wurde schnell
verdrängt, als die Schmerzen nachließen, und beim nächsten
Vereinstreffen erfuhr ich, daß selbst erfahrene Marathonläufer zu
kämpfen hatten. Die Vorbereitung für den nächsten
BERLIN-MARATHON, in der Hoffnung besser und schneller durchzukommen, hat schon
begonnen!
(BERLIN-MARATHON 2000; 3:25 Std.)