Anlässlich des 1. Lilli-Henoch Frauen-Sportfestes des Berliner SC im Mai
hielt der Vizepräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Theo Rous,
die Rede, die www.berlin-marathon.com hier veröffentlicht:
Zum vierten Mal führt der ruhmreiche Berliner Sportclub(BSC) heute, am
20.Mai 2004, sein Frauensportfest durch. Der BSC, das war und ist für mich
jener Club mit dem Brandenburger Adler auf der Brust berühmter
Sportlerinnen und Sportler. Carl Diem, lange Jahre Vorsitzender,
Ehrenpräsident und Mitglied bis an sein Lebensende, hat ihn getragen, und
getragen haben ihn ganze Heerscharen von Wald- und Staffelläufern in der
ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, z.B. beim Staffellauf
Potsdam-Berlin, ein Ereignis, vergleichbar mit dem heutigen Berlin-Marathon.
Fünfzig Läufer bildeten eine Mannschaft. Im letzten Jahr vor dem
1.Weltkrieg nahmen insgesamt 57 Mannschaften teil, darunter das
Königin-Elisabeth-Garde-Grenadier-Regiment Nr 3, der Fußballclub
Hertha von 1892, der Berliner Tennisclub Borussia und der BSC mit sieben(!)
Mannschaften. Eine gab zwar auf, aber dafür gewann die erste Mannschaft
mit dem Schlussläufer Friedrich Karl, Prinz von Preußen, dem Neffen
des Kaisers, in 1 Stunde, 2 Minuten und 43 Sekunden, fast eine Minute vor dem
SCC. Und Carl Diem, selbst Teilnehmer, dichtete: „Die Muskeln aus Eisen,
der Wille wie Stahl, wir wollen beweisen, wir Schwarzen zumal, mit dem goldenen
Adler: Wir siegen."
Zur Geschichte des Vereins aber gehören auch Spitzenathleten der Vor-
und Nachkriegszeit wie der Olympiateilnehmer von 1928 Hermann Schlöske,
die Medaillengewinner bei den Olympischen Spielen 1932 und 1936,
Zehnkämpfer Wolrad Eberle und Hammerwerfer Erwin Blask, der
Hürdenläufer bei den Spielen 1952 in Helsinki, Wolfgang
Troßbach, die Brüder Olaf und Jörg Lawrenz und viele
andere.
In diesem Jahr steht das Sportfest unter einem besonderen Stern. Der Verein
hat beschlossen, diese Veranstaltung in Lilli-Henoch-Frauensportfest
umzubenennen. Lilli Henoch (geb. 1899): Das war eine jener Frauen, die in den
zwanziger Jahren im Berliner und im deutschen Sport, vor allem in der
Leichtathletik, eine besondere Rolle spielten. Sie trat 1919 dem Berliner
Sportclub bei, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts über ein
vielfältiges Angebot an Sportarten für breite Schichten der
Bevölkerung verfügte. Das reichte von der damals so genannten
"Athletik" auf dem Sportplatz an der Cicerostraße über
Hockey, Boxen, Ringen, Fechten, Tennis, Eishockey bis zum Schwimmen im Seebad
Halensee.
Der BSC gehörte zu den ersten Vereinen in Deutschland, die eine
Frauenabteilung ins Leben riefen. Die Frauenleichtathletik steckte in jenen
Jahren in den Kinderschuhen. Sie wurde in einer von Männern dominierten
Sportwelt wenig ernst genommen. Bösartige Diskriminierungen waren nicht
selten. Frauenwettbewerbe dienten häufig der Volksbelustigung. Es gab
Wettbewerbe im Kinderwagenschieben, und Journalisten nannten Teilnehmerinnen an
athletischen Wettbewerben nur mit Vornamen, um ihren Familien die Schande zu
ersparen, mit ihnen öffentlich in Verbindung gebracht zu werden. Der
bekannte Sprinter, Sportjournalist und Funktionär Kurt Doerry attestierte
seinen weiblichen Kolleginnen, ihr Laufstil stehe zu dem des Mannes in
ähnlichem Kontrast wie "das Watscheln einer Ente zum stolzen Schritt
eines Rennpferdes".
Der Bremer Arzt Dr.Junkers-Kutnewsky empfahl zwar Mitte der zwanziger Jahre
den Frauen die einfachen Übungen des Laufens, Springens und Werfens,
allerdings mit der perfiden Begründung, der grüne Rasen habe eine
enorm beruhigende Wirkung auf Frauen und außerdem "belasteten die
Übungen kaum das Gehirn."
Das klingt nach Stammtischwitz, war aber ernst gemeint. Nicht Leistung,
Wettkampf und sportlicher Einsatzwille, sondern Anmut und Schönheit
sollten das Auftreten der Frauen im Sport bestimmen. Das Regelwerk der
Leichtathletik gestattete in jenen Jahren den Frauen nur eine geringe Auswahl
an Disziplinen. Außerdem war nicht erlaubt, an mehr als zehn
Wettkämpfen pro Jahr teilzunehmen. Die Regel galt noch 1929.
Aber allen Schwierigkeiten zum Trotz: Nachdem die Deutsche Sportbehörde
für Athletik nach dem ersten Weltkrieg die Frauenleichtathletik
programmatisch auf den Weg gebracht, Deutsche Meisterschaften in einigen
Disziplinen durchgeführt und Rekordlisten eingerichtet hatte, sorgten
Athletinnen wie Lilli Henoch mit ihren Leistungen dafür, dass Frauen im
Sport mehr und mehr wahr - und vor allem ernst genommen wurden. Zehnmal wurde
sie zwischen 1922 und 1926 Deutsche Meisterin im Kugelstoß, Diskuswurf,
Weitsprung und in der 4x100-m-Staffel. Vier Weltrekorde stellte sie auf, und
nebenbei zählte sie zur Elite der deutschen Hockey-und
Handballspielerinnen. Sie war eine jener Frauen, die der jungen deutschen
Frauenleichtathletik Weltgeltung verschafften und den Sport der Frauen
insgesamt auf den langwierigen Weg der gesellschaftlichen Anerkennung und
Emanzipation brachten.
Für die junge Leichtathletin und Sportlehrerin endete dieser voller
Hoffnung begonnene Weg auf brutale und unmenschliche Weise. Lilli Henoch war
Jüdin. Mit der Machtergreifung im Jahr 1933 durch die Nazis hatten
Sportvereine und -verbände in vorauseilendem Gehorsam die Rassengesetze
mit dem berüchtigten "Arierparagraphen" übernommen. Damit
war das Schicksal jüdischer Sportlerinnen und Sportler besiegelt. Sicher
hat der Sport die tödlichen Konsequenzen nationalsozialistischer
Ideologien nicht gewollt. Aber das "völkische" Denken des Sports
lässt lange vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus eine unbestreitbare
Affinität zu dessen menschenverachtenden Rassentheorien erkennen. Carl
Diem erwartete von deutschen Sportlern im Hinblick auf die in Berlin geplanten
Olympischen Spiele von 1916, dass sie den Vorsprung des Auslands
"ausgleichen durch das Edelmaterial der deutschen Rasse". Karl Ritter
von Halt, einer der großen Sportführer des Dritten Reiches,
erwartete von der Frauenleichtathletik, sie habe zur Erziehung und
Fortpflanzung einer "gesunden deutschen Rasse" beizutragen und
apostrophierte anlässlich der Deutschen Meisterschaften 1933 die jungen
Meisterinnen als "Trägerinnen unserer Rasse". Der Cheftrainer
Waitzer bezeichnete seine Athletinnen als Repräsentanten des nordischen
Rassetyps, und die Olympiasiegerin von 1936, Gisela Mauermeyer,
mustergültige und überzeugte Repräsentantin des NS-Sports,
verbreitete den Glaubenssatz, "die Frau im Sport handele allein nach den
Gesetzen des Bluts und der nordischen Rasse".
Die Folgen dieser Theorien konnten nicht überraschen. Für
jüdische Sportlerinnen und Sportler war kein Platz mehr in den Vereinen
und -verbänden des gleichgeschalteten Sports. Lilli Henoch wurde aus dem
Berliner Sportclub ausgeschlossen. Bis 1938 hatte sie die Möglichkeit, im
jüdischen Turn - und Sportclub von 1895 ihrem Sport nachzugehen, bis im
Zuge der "Endlösung" der Judenfrage Pogrome und Deportationen
zur Tagesordnung gehörten und auch Lilli Henoch ins Verderben
führten. Sie wurde mit ihrer Mutter in ein Arbeitslager nach Riga
verschleppt und 1942 dort ermordet.
Sportverbände und - vereine haben nach Ende des Krieges und der
Naziherrschaft die Aufklärung der Rolle des Sports in jenen unseligen
Jahren nicht sonderlich offensiv betrieben. Bis in unsere Tage sind
Argumentationen nicht zu überhören, man solle doch die Vergangenheit
ruhen lassen, und was hätten denn damals die handelnden Personen anders
machen sollen als sich an den "Zeitgeist" anzupassen. Ich bin anderer
Meinung: Wir im Sport sollten, auch wenn mehr als ein halbes Jahrhundert
vergangen ist, nicht zulassen, dass eine nicht immer rühmliche
Vergangenheit des organisierten Sports und seiner Führer, aber auch das
Phänomen des Wegschauens vieler Mitläufer verharmlost oder gar
verschwiegen wird.
Es geht nicht darum, Menschen postum zu diskreditieren, ihren Namen zu
beschmutzen, ihre unzweifelhaften Verdienste zu missachten. Carl Diem ist so
ein Beispiel. Ich halte ihn für den bedeutendsten Sportführer, den
Deutschland je gehabt hat. Aber seine Rolle im dritten Reich ist ambivalent,
und es ist legitim und notwendig, die historische Rolle von
Führungspersönlichkeiten, in welchem gesellschaftlichen Kontext
auch immer, kritisch zu hinterfragen, nicht nur im Elfenbeinturm der
Wissenschaft, auch in unseren Vereinen und Verbänden. Und vor allem: Man
darf und man kann auch gar nicht die Rolle des Sports, seiner Führer und
Vertreter in jener Zeit ausklammern, wenn es um die unverzichtbare Pflicht der
Nachwelt geht, den Opfern gerecht zu werden.
Die Bemühungen, ihrer zu gedenken, ihre Leistungen und ihr Schicksal zu
würdigen, - auch nach vielen Jahren -, verdienen unseren Respekt. Wir
sollten nicht nachlassen, die Erinnerung an sie aufrecht zu erhalten und die
Mechanismen und Strukturen aufzudecken, die zu solchen Katastrophen
führen, wie wir sie in Form des Nationalsozialismus erlebt haben. Sie
sollte dazu beitragen, dass sich ähnliche Manifestationen der
Unmenschlichkeit in unserer Geschichte nicht wiederholen. Erinnerung und
ehrliche Aufarbeitung dieser Vergangenheit ist auch deshalb unverzichtbar,
damit wir nicht die moralische Legitimation verwirken, ähnliche
Entwicklungen überall in der Welt anzuprangern und verhindern zu helfen,
auch wenn sie nicht die Dimensionen der Greuel des Dritten Reiches
erreichen.
Darin liegt eine Bedeutung des heutigen Tages, und dafür ist dem
Berliner Sportclub mit seiner Leichtathletikabteilung und ihrer Leiterin, Dr.
Anne-Marie Elbe, zu danken. Sie werden mit dieser Umbenennung und der
dankenswerten Ausstellung von Martin-Heinz Ehlert über das Schicksal Lilli
Henochs die Welt nicht aus den Angeln heben. Es ist ein Mosaikstein, einer von
möglichst vielen, und vor allem glaube ich, dass Lilli Henoch heute ihre
Freude daran hätte, wenn sie sähe, wie der BSC, einer der familien-,
frauen- und kinderfreundlichsten Vereine Berlins, gerade jungen Frauen ein
vielfältiges leichtathletisches Angebot macht. Ich wünsche mir, dass
der Lilli Henoch gewidmete Ehrenpreis, den der DLV für die Siegerin im
Kugelstoßen gestiftet hat, einer Disziplin, in der sie Weltrekordlerin
war, junge Athletinnen ein wenig motivieren und das Andenken an Lilli Henoch
wachhalten hilft.
Der DLV hat in der historischen Abteilung seiner Internetseite eine
sogenannte "Hall of Fame" eingerichtet. Dort sind zur Zeit 17
Athletinnen und Athleten aufgeführt, an die nach Meinung der
Verantwortlichen aufgrund ihrer Bedeutung in der Geschichte der Leichtathletik
unseres Landes die Erinnerung in besonderer Weise wachgehalten werden sollte.
Die Liste reicht von Lisa Gelius, der Europameisterin im Speerwerfen von 1938,
über Rudolf Harbig, Bert Sumser, Heide Rosendahl, Willi Wülbeck bis
Thomas Schönlebe und Ilke Wyludda. Seit wenigen Tagen gehört auch
Lilli Henoch dazu. Ich denke, sie hat es aus vielen Gründen verdient.