Der neueste kenianische Läufer-Held heißt Charles Kamathi. Der
23-Jährige ließ seine Landsleute am Mittwoch Abend mit einem
historischen Sieg jubeln, der in Kenia für Furore sorgen wird. Zehn Jahre
ist es her, da gewann ein Kenianer zum letzten Mal ein ganz großes
10.000-m-Rennen. Damals, 1991 in Tokio, wurde Moses Tanui Weltmeister. Seitdem
hatte Kenia über die prestigeträchtige Langstrecke weder bei einer WM
noch bei Olympia gewonnen. Und seit der WM in Stuttgart 1993 hieß der
Sieger bei diesen wichtigsten Meisterschaften immer Haile Gebrselassie. Viermal
Weltmeister und zweimal Olympiasieger war der Äthiopier geworden.
Im vergangenen Jahr setzte sich Gebrselassie bei den Olympischen Spielen von
Sydney nur hauchdünn gegen Kenias Ausnahmeläufer Paul Tergat durch.
Tergat wechselte inzwischen jedoch zum Marathon. Und damit war der vermeintlich
stärkste Kenianer bei der WM eigentlich aus dem Rennen. Doch nun kam
plötzlich Charles Kamathi und schaffte das, was Paul Tergat jahrelang nie
gelang: Ein Sieg gegen den Weltrekordler Haile Gebrselassie. Und das auch noch
im Spurt, in dem der Äthiopier als so gut wie unschlagbar galt. "Ich
weiß nicht, was auf den letzten 100 Metern passierte", sagte Haile
Gebrselassie, nachdem er in Edmonton als Dritter in 27:54,41 Minuten ins Ziel
gelaufen war. 150 Meter vorher war Charles Kamathi nicht an ihm vorbeigerannt,
sondern vorbeigeflogen. In 27:53,25 Minuten sprintete er schließlich zum
Gold, Zweiter wurde Assefa Mezgebu (Äthiopien/27:53,97). "Ich hatte
nicht erwartet, dieses Rennen zu gewinnen und Haile zu schlagen. Ich wollte
unter die ersten Fünf, aber meine beiden Landsleute haben mir sehr
geholfen. Wir waren während des gesamten Rennens die Tempomacher, was sich
am Ende ausgezahlt hat", sagte Charles Kamathi, der vor zwei Jahren als
Nobody überrascht hatte. Damals gewann der 21-Jährige in Brüssel
die 10.000 m in der Jahresweltbestzeit von 26:51,49 Minuten. Es war damals sein
erster Start in Europa.
"Ich war eigentlich in guter Form und bis zur letzten Runde auch
zuversichtlich. Aber dann konnte ich nicht mehr zusetzen. Der Kenianer hat mich
wirklich überrascht. Ich hatte nicht gedacht, dass so etwas
passiert", erzählte Haile Gebrselassie, der allerdings einige Tage
zuvor krank gewesen war und sogar Fieber hatte. "Aber zuletzt ging es mir
besser, und ich hatte zuvor gut trainiert", erklärte Haile
Gebrselassie, der in Edmonton sein erstes Rennen seit dem Olympiasieg von
Sydney gelaufen war. Nach Olympia hatte er sich einer Achillessehnenoperation
unterziehen müssen.
"Das war ein lustiges Rennen", sagte Haile Gebrselassie. "Es
ging schnell, dann wieder langsam, wieder schnell und wieder langsam. Ich
dachte, dass jede Art von Rennen für mich passen würde - aber
anscheinend lag ich da falsch." Am Ende schmerzte dem Weltrekordler, der
sich lange Zeit zurückgehalten hatte und mitten im Feld gelaufen war,
deswegen auch noch seine Wade. "Aber das ist morgen wieder weg."
Anfangs war das Tempo sehr langsam. Erst nach 14:15,11 Minuten waren 5000 m
gelaufen. Keiner wollte an der Spitze die Initiative übernehmen. Dann
wurde es jedoch von Kilometer zu Kilometer schneller, wobei das Tempo innerhalb
der einzelnen 1000-m-Abschnitte jedoch immer wieder wechselte. Bei 6000 m
(17:02,04) zeigte sich zum ersten Mal Haile Gebrselassie ganz vorne. Kamathi
hatte das Feld zuvor schon öfter angeführt und war auch danach
aktiver. Auch für die zermürbenden Tempowechsel hatten in erster
Linie die Kenianer gesorgt, die neben Kamathi auch noch Paul Kosgei und John
Cheruiyot Korir im Rennen hatten. Da Gebrselassie als Weltmeister eine Wildcard
hatte, waren die Äthiopier sogar zu viert. Es sah so aus, als ob sie
kraftsparender als die Kenianer liefen, denn sie wechselten ihr Tempo nicht so
drastisch wie Kamathi und Co. Überraschend stark waren zudem die beiden
Spanier Fabián Roncero, der Sieger des BERLINER HALBMARATHON, und
José Rios. Sie kamen auf die Ränge fünf und sechs. Auch
Roncero hatte zwischenzeitlich an der Spitze für deutliche Tempowechsel
gesorgt.
Nachdem der neunte Kilometer in unter 2:45 Minuten gelaufen worden war,
folgten die letzten 1000 Meter in 2:36. Zuvor hatte sich die Spitzengruppe
reduziert auf die drei Kenianer, drei Äthiopier (Gebrselassie, Mezgebu und
dem späteren Vierten Yibeltal Admassu) sowie die zwei Spanier, die am Ende
der Gruppe liefen. Doch keiner wollte zunächst die Initiative
übernehmen. 550 Meter vor dem Ziel verschärfte Kamathi das Tempo,
gefolgt von Gebrselassie und den anderen beiden Äthiopiern. Während
die Spanier im Medaillenkampf keine Chance mehr hatten, entwickelte sich ein
hoch spannendes Rennen, bei dem selbst Gebrselassie überrascht wurde. 500
Meter vor dem Ziel kam Paul Kkosgei nach vorne. Doch der sollte offenbar nur
den Spurt anziehen, damit Kamathi später nochmals von hinten kommen
konnte. 300 Meter vor dem Ziel gingen Gebrselassie innen und Mezgebu
außen am Kenianer vorbei, der aber die Position zunächst hielt und
sich immer wieder umschaute - offenbar wartete er auf Kamathi, mit dem die
Äthiopier nicht mehr rechneten. Haile Gebrselassie zog den Spurt an, der
jedoch nicht so stark war wie in den vergangenen Jahren. 150 Meter vor dem Ziel
konnte Charles Kamathi außen vorbeisprinten. "Ich glaube nicht, dass
das meine letzten 10.000 m waren", meinte Haile Gebrselassie, der einen
Wechsel zum Marathon geplant hatte, "es ist nicht akzeptabel, als
Verlierer die Distanz zu wechseln."
Vor diesem historischen 10.000-m-Finale hatten die Kenianer bereits zwei
Medaillen gewonnen. In ihrer Paradedisziplin siegte über 3000 m Hindernis
Reuben Kosgei in 8:15,16 Minuten vor dem Marokkaner Ali Ezzine (8:16,21) und
Bernard Barmasai (Kenia/8:16,59). Der dritte Kenianer, Raymond Yator, war am
letzten Wassergraben gestolpert und wurde Achter, einen Rang vor dem
überzeugend laufenden Ralf Assmus (Erfurt), der in 8:21,73 Minuten eine
persönliche Bestleistung aufstellte. "Wir Kenianer sind alle um die
Goldmedaille gelaufen, deswegen gab es auch keine taktischen Absprachen. Ich
wollte nicht, dass mich ein Landsmann schlägt", sagte Reuben
Kosgei.