Erwartungsgemäß gewinnen René Herms, Wolfram
Müller, Kathleen Friedrich und Melanie Schulz die Titel –
Überraschung im 800 m-Finale: Anja Knippel überrascht Monika
Gratzki
Männer 800 m:
Im Schatten von René Herms verpasst Nico Motchebon den
Olympiazug
Die Ausgangssituation für Nico Motchebon eine nicht einfache,
schließlich fehlten dem Rückkehrer gerade einmal eine
Hundertstelsekunde zur Olympianorm von 1:46:00. Die Bereitwilligkeit des schon
als olympiatauglich eingestuften René Herms in Ehren, doch am Ende stand
der Berliner im Trikot von Salamander Kornwestheim doch sichtlich
enttäuscht mit leeren Händen im Ziel.
Deftige Windböen taten ein Übriges, der Altmeister hatte sein bestes
gegeben, kam mit 1:49,91 und drei Zehntelsekunden hinter dem alten und neuen
Titelträger aus Pirna ins Ziel. Wie immer auch die Leistungen im wenig
spektakulären Finale zu werten sind, der eigentliche Gewinner der Saison
heißt Nico Motchebon mit nunmehr 35 Jahren. Der frühere Moderne
Fünfkämpfer hat die kurze Mittelstrecke nahezu ein Jahrzehnt mit
Klasserennen belebt und steht immerhin mit seinen 1996 erzielten
1:43,91 auf Rang drei der „ewigen“ Bestenliste
Deutschlands – und sich nach eher schwächeren Jahren zu einer (fast)
olympiatauglichen Verfassung zurückgemeldet.
Übrigens war das 800 m-Finale ein Duell der
Generationen. Hier der Altmeister Nico Motchebon (35) und der aus
Kasachstan stammende Neu-Regensburger Eugen Schelestow (30) und mit Abstrichen
auch Steffen Co (27), dort die junge Garde mit unserem Olympialäufer
René Herms (22), Christian Köhler (24), Andreas Freimann (21),
Matthias Jaworski (25) und Dennis Roloff (21). Die jungen Leistungsträger
jedenfalls blieben freilich im Stadion an der Hamburger Straße ihrem
Anspruch, „junge Wilde“ zu sein, in der Nachweispflicht. Aus der
nachdrängenden Garde fehlte freilich einer, der sich derzeit schon auf dem
Weg zur Junioren-WM nach Grosseto befindet, der 19jährige Fürther
René Bauschinger.
Ganz im Sinne der Boulevardpresse nutzte René Herms beim Siegerinterview
noch die Gelegenheit, vor 18 000 (Zuschauer-)Zeugen seiner Freundin einen
Heiratsantrag zu machen. Da diese ein eher nüchternes „Ja“
herausbrachte, dürfte vielleicht schon nach Athen eine
medienträchtige Hochzeit anstehen ...
Männer 1500 m:
Zu guter Letzt doch Wolfram Müller
Ein wenig spektakulär das 1500 m-Finale, doch am Ende hatte Wolfram
Müller erwartungsgemäß die Nase vorne. Müller vor Franek
Haschke und Toni Mohr. Und die Zeit: Mäßige 3:46,35 Minuten. Damit
wäre schon der Chronistenpflicht Genüge getan, wenn nicht hier mit
dem 23jährigen Wolfram Müller ein ausgewiesenes Talent nach vielen
verletzungsbedingten Rückschlägen mit Erfolg auf Titeljagd gegangen
wäre, das schon des öfteren an seiner instabilen Konstitution
gescheitert ist.
Mit der Olympianorm im Gepäck, dem Sieg beim Europacup in Rücken
und mit Isabelle und Dieter Baumann als Betreuer läuft sich scheinbar
erfolgreich.
Nach dem eher zögerlichen 5000 m-Auftritt am ersten Meisterschaftstag
nutzte Wolfram Müller diesmal konsequent die ihm gebotene Chance in einem
ziemlich verschleppten Finallauf. Mit einem resoluten Antritt konterte der
Neu-Tübinger den langgezogenen Spurt von Titelverteidiger Franek Haschke
(1200 m: 3:05,48), um auf der Zielgeraden den programmierten Meistertitel in
3:46,35 gegen Haschke (3:46,78) und den tempostarken 21jährigen Mohr
(3:46,90) einzufahren. Der erfreulich agile 24jährige Neuling Jonas Hamm
folgte auf dem undankbaren vierten Rang in 3:47,15 Minuten.
„Die Läufe der beiden Tage waren eine ordentliche Belastung. Heute
war es in erster Linie wichtig, dass ich auch taktische Rennen gewinnen
kann!“ Und mit Blick voraus auf das große Highlight Athen:
„Das ist auch wichtig für Athen und insbesondere für mein
Selbstvertrauen!“ Das kann Wolfram Müller freilich auch gebrauchen,
schließlich ist es an der Zeit, dass die Mittelstrecken wieder mit
positiven Schlagzeilen für Aufmerksamkeit sorgen!
Frauen 800 m:
Anja Knippel nutzte ihre Chance zum Titelgewinn
Ohne die wegen einem „postinfektiösem
Überlastungssyndrom“ fehlende Claudia Gesell schien im 800 m-Finale
alles auf einen Erfolg für Monika Gratzki, der deutschen Hallenmeisterin
dieses Winters, hinaus zu laufen. Doch wieder einmal bewahrheitete sich die
Regel, dass Meisterschaftsrennen ihren eigenen Gesetzen folgen.
Die Wattenscheider Favoritin ließ zunächst Simone Beutelsbacher
führen, um dann aber rasch selbst das Renngeschehen zu diktieren. In 64,66
folgten dichtauf Simone Beutelsbacher, ihre Wattenscheider Clubkollegin Janina
Goldfuß und die Erfurterin Anja Knippel. Selbst 50 m vor dem Ziel schien
alles auf Monika Gratzki hinauszulaufen, ehe mit dem letzten Schub Anja Knippel
die Reihenfolge noch kippen konnte. „Natürlich habe ich gehofft,
dass es einmal klappt. Chancen sieht man doch eigentlich immer“, freute
sich die 30jährige vom Team Erfurt über ihren letztlich doch
unverhofften Coup.
„Wegen einer Sprunggelenksverletzung habe ich die Halle völlig
ausgelassen. Das war sicherlich ein vernünftiger Schritt in die richtige
Richtung“, erklärte die neue Meisterin ihre Absenz bei den
Hallenmeisterschaften. „Ich hatte also auch nichts zu verlieren, mit
dreißig ehedem!“ Die Vermutung, dass gerade die eher langsameren
Meisterschaftsrennen ein Vorteil für die Erfurtern darstellen, das
lässt die frühere 400 m-Läuferin nicht gelten. „Mir sind
eigentlich die Rennen am liebsten, die richtig zügig sind!“ Aber es
geht zweifellos auch anders herum.
Im verschleppten Meisterschaftsrennen folgte Monika Gratzki auf Rang zwei,
deutlich zurück zeitgleich auf den Plätzen drei und vier Simone
Beutelsbacher und die junge Katrin Judith Trauth. Die stark eingeschätzte
Janina Goldfuß büßte erst im hektischen Finale ihre
Medaillenchancen ein.
Frauen 1500 m:
Genugtuung für Kathleen Friedrich
„Für ein Meisterschaftsrennen ist am Ende doch noch eine
ordentliche Zeit heraus gekommen“ stellte Kathleen Friedrich als alte und
neue Meisterin mit unverkennbarer Zufriedenheit mit Blick in die
Journalistenrunde fest. Die sicherlich nur geringen Hoffnungen auf die
Olympianorm hatte die Neu-Potsdamerin angesichts des böigen Windes rasch
aufgegeben, zumal ihre Clubkollegin Antje Möldner das Anfangstempo
(1:06,47) nicht länger hoch halten konnte.
Denn schon nach gut 400 m setzte sich Kathleen Friedrich an die Spitze des
Feldes, gefolgt von Antje Möldner und Carmen Rüdiger. Doch im
Alleingang waren die geforderten 4:05,80 nicht zu schaffen. Das jedenfalls war
der 27jährigen, die unter dem Training von Beate Conrad zur
Leistungsträgerin über diese Mittelstreckendistanz gereift ist, rasch
klar. Dennoch spricht es für Kathleen Friedrich, dass sie das Tempo
einigermaßen hoch halten wollte. „Ich habe zwar viele Rennen
bestritten“, blickt die Potsdamerin zurück auf die bisherige Saison,
„doch ich habe mir nicht vorzuwerfen, eine Möglichkeit verpasst zu
haben, die Olympianorm zu laufen. In Kassel hätte es ja fast geklappt, am
Ende fehlte nur eine halbe Sekunde. Besonders freut es mich, dass ich mich auf
einem Niveau mit Endzeiten bis 4:11 bewege. Und das habe ich meiner Trainerin
zu verdanken, die mir das Selbstvertrauen wieder gegeben hat!“
Das Braunschweiger Meisterschaftsrennen war übrigens eine
eindrucksvolle Demonstration der Leistungsstärke des SC Potsdam,
die mit Kathleen Friedrich, Carmen Rüdiger und Antje Möldner die
Ränge eins bis drei belegen konnten. „Das zeigt doch, dass
die 1500 m in Potsdam zu Hause sind!“ und blickt dankbar zu ihrer
Trainerin, die als Beate Liebich in den 80er Jahren zu den besten
Mittelstrecklerinnen Europas zählte.
Frauen 3000 mH.
Melanie Schulz: Erfolgreiches Comeback
Die Durststrecke war lang, doch das lange Warten hat sich für Melanie
Schulz gelohnt. „Mitlaufen, schauen, was die anderen machen und absetzen.
Das war unser Fahrplan!“ Die Erleichterung war der früheren U
23-Europameisterin anzumerken. Kein Wunder, schließlich war der erste
Start zugleich auch schon ein sehr wichtiger Wettkampf.
Arthritische Bewerden im Mittelfußbereich hatten die kleine Erfurterin
praktisch ein Jahr außer Gefecht gesetzt. „Ich wollte schon in
Zeulenroda Mitte Mai starten und mich für den Europacup qualifizieren,
doch mein Trainer hat mich zurückgepfiffen!“ Sechs Wochen
Lauftraining mussten ausreichen – für den Meistertitel. „Jetzt
kann ein internationales Rennen kommen“, forderte Melanie Schulz im Ziel,
„denn mit 10:22,08 kann ich die Saison doch noch nicht beenden!“
Die Erfurterin wäre gerne auf die deutsche Jahresbeste, die 19jährige
Verena Dreier in Braunschweig getroffen, doch die Siegenerin startet in der
kommenden Woche bei den Junioren-Weltmeisterschaften in Grosseto. „Gegen
Verena wäre es doch ein härterer Kampf geworden!“
Die deutsche Rekordlerin führte nahezu von Beginn an, zog zunächst
noch mit der Titelverteidigerin Katrin Engelen, Kristin Möller, Tina
Tremmel und zunächst noch Felicitas Mensing mit, um mit zunehmender
Distanz („Der Kampf gegen den Wind hat mich doch ganz schön
geschlaucht“) einem sicheren Sieg entgegen zu laufen.
Katrin Engelen, die sich am längsten noch auf Tuchfühlung mit der
Melanie Schulz befunden hatte, verlor den an sich sicheren zweiten Rang
praktisch auf der Ziellinie noch gegen Tina Tremmel. Die kleine Mannheimerin
kompensierte das Handikap, sechs Runden lang mit nur einem Schuh laufen zu
müssen, mit großem Kämpferherz und wurde dafür mit Silber
belohnt („Ich lange überlegt, ob ich weiterlaufen oder aufhören
sollte!“).
Wilfried Raatz