...von 6,546 Millionen Dollar, die bis zum 14. Juli dieses Jahres allein an
Läufer in sämtlichen Preisgeld-Rennen rund um den Globus
ausgeschüttet wurden. Das ist eine hübsche Stange Geld, und das
vorjährige Resultat wurde sogar noch knapp übertroffen. Kein Zweifel,
das Geschäft. Wer hätte das gedacht? Es heißt in diesem Sommer
doch immer wieder, dass die olympische Kernsportart sich in ihrer
größten Krise überhaupt befinde, und diese Beobachtung kann ja
nicht aus der Luft gegriffen sein. Niemand kann bestreiten, dass gehäuft
selbst traditionelle Sportfeste entweder sterben oder wenigstens finanziell
dramatisch abgespeckt werden müssen. Wenn es in der Wirtschaft kriselt, es
ist eine Binsenweisheit, ziehen die Sponsoren ihre Unterstützung zuerst
aus dem Spitzensport ab.
Wo aber kommen die sechseinhalb Millionen Dollar her? Die Antwort ist
einfach. Sobald der Spitzenläufer mitten hinein in die Städte geht,
trifft er auf eine von ihm offensichtlich sehr beeindruckte Zielgruppe. Im
Laufe von rund drei Jahrzehnten hat er als ausdauerndes Zugpferd für den
Gesundheitsboom Millionen von Gleichgesinnten aus ihrem Alltagstritt und -trott
herausgeholt, begeistert und zum Mitmachen angespornt, und so entstand ein
lukrativer Markt. Er gipfelt in Teilnehmerzahlen jenseits der 30 000 bei den
Marathons in Berlin, London, New York oder Honolulu. Wie
selbstverständlich führt die Liste der Bestverdienenden der
US-amerikanische Weltrekordler Khalid Khannouchi mit vorläufigen 2002er
Einnahmen in Höhe von 263 000 Dollar an, gefolgt von dem Kenianer Paul
Tergat (93 755 Dollar).
Trotzdem erzählen solche eindrucksvollen Beispiele noch längst
nicht alles darüber aus, ob die Leichtathletik ganz allgemein ihren Mann
ernährt. Tatsächlich haben wir es hier mit einer Sonderentwicklung zu
tun, einer Art von kleiner Entwicklungshilfe für die Dritte Welt. Nicht
weniger als 26 von den Top-50 stammen aus Kenia.
Bis zum Oktober 1981, dem Kongress des Internationalen Olympischen Komitees
in Baden-Baden, war die Leichtathletik eine Amateursportart, die wegen ihres
strengen Leistungsanspruchs seit jeher bevorzugt sportbegabte Studenten in
ihren Bann zog. Dann hielt der Professional seinen Einzug. Bald besorgte ihr
der umtriebige italienische Präsident des Weltdachverbandes, Primo
Nebiolo, ihr eine auf Star-Appeal angelegte Finanzstruktur. Fernsehgelder
begannen zu fließen, und auf die Besten warten seither Preisgelder bei
den Grand-Prix- und Golden-League-Meetings. In ausgesuchten Disziplinen
erhalten die Sieger pro Wettkampf 7 500 und 15 000 Euro, bei den
Finalwettbewerben werden je Disziplin für die Nummer eins zusätzliche
50 000 Dollar sowie für den Gesamtersten, das war im vorigen Jahr der
Schweizer 800-m-Läufer André Bucher, 100 000 Dollar
ausgeschüttet. Ein mit einer halben Million Dollar gefüllter Jackpot
kann von Sportlern geknackt werden, die in einer Serie von sieben
Wettkämpfen ohne Niederlage bleiben.
Darüber berichten die Medien gerne, und daheim staunt ihr Konsument bei
der Lektüre. In Wahrheit ist es jedoch ziemlich zynisch, darauf zu
spekulieren, dass der normale Sportfreund sich eh nur die Namen von allenfalls
zwei bis drei Dutzend Weltklasseartisten zu merken vermag, eine kleine Zahl
also fürs Erscheiungsbild in der Öffentlichkeit genügt. Mehr
erreichen auch nicht den Status eines in Gelddingen unabhängigen
Souveräns. Wer wird schon Weltrekordler, Weltmeister und Olympiasieger.
Schon sehr bald unter einer dünnen Oberschicht beginnt das breite
Mittelfeld, um dessen Einkünfte sich auch noch, aktuell, 146 lizenzierte
Manager balgen. Davon haben 91 fünf und weniger Klienten.
Zum Beispiel in Deutschland sind vielleicht 15 Leichtathleten ordentlich
raus. Zuerst Dieter Baumann, noch und nach der Dopingsperre wieder, Heike
Drechsler, Nils Schumann, Lars Riedel, Astrid Kumbernuss, Grit Breuer,
neuerdings Ingo Schultz. Ihr Vorbildcharakter sollten die Nachwuchsleute
indessen mit äußerster Vorsicht genießen. Denn gerade die
Talente aus den hoch entwickelten Industrieländern müssen es sich
dreimal überlegen, ob sie auf eine berufliche Ausbildung und ein Studium
verzichten zugunsten eines Abenteuers mit dermaßen ungewissem Ausgang, wo
das Risiko erheblich höher als die Chance ist.
Der 800-m-Olympiasieger Schumann hat Abitur, eine Banklehre brach er aber
schnell ab, mehr ist nicht, wie will er die Pensionsgrenze erreichen, sollten
keine neuen Erfolge mehr hinzu kommen? Er sagt jetzt, er wolle ab Herbst
Philosophie studieren. Der Thüringer erkannte in wiederkehrenden
Verletzungs- und Krankheitspausen immerhin die drohenden Defizite. Nach seinem
Triumph vor zwei Jahren hatten einige Bundestrainer noch offen nach einem
Schumann-Typ gerufen, der auch ihren Arbeitsplatz sichert. Scheuklappen auf,
und nicht nach links und rechts gucken: Was für ein verschrobenes Ideal!
Auf diese Weise entsteht zum Preis einer vielleicht einzigen rühmlichen
Ausnahme ein Sportplatz-Proletariat, das in nicht ferner Zukunft in der
Sackgasse endet - als Sozialfall.
Leichtathletik-Vollberufler sind in diesen ökonomisch schwierigen
Zeiten in der Ersten Welt mehr den je Raritäten. Deshalb müssen die
Spitzenleistungen ja nicht unbedingt aus den Augen verloren werden. Ingo
Schultz besitzt einen Studienabschluss, er schreibt an einer Doktorarbeit und
sagt immer noch: "Meinen Sport betreibe ich nicht wegen des Geldes."
Der 400-m-Vizeweltmeister ist ein richtig guter Halbprofi. Ein Charakter.
Von Robert Hartmann