Dass eine Japanerin den schweren Marathonlauf in Athen gewann, war kein Zufall.
Bei den letzten drei Olympischen Spielen gab es jeweils eine Medaille für
die Marathonläuferinnen aus Nippon. 1992 lief Yuko Arimori in Barcelona zu
Silber, vier Jahre später holte sie in Atlanta Bronze. Vor vier Jahren
wurde Naoko Takahashi in Sydney Olympiasiegerin. Nun schaffte das in Athen
Mizuki Noguchi.
Die Dichte der japanischen Weltklasseläuferinnen ist enorm. Im
vergangenen Jahr liefen drei Athletinnen unter 2:22 Stunden. Acht
Läuferinnen stehen in der Liste der besten Zeiten aller Zeiten mit einem
Ergebnis von unter 2:23 Stunden – kein anderes Land kann auch nur
annähernd eine derartige Dichte von erstklassigen Läufern vorweisen.
Und von den drei schnellsten Japanerinnen der letzten zwei Jahre schaffte nur
eine die Qualifikation für Olympia: Mizuki Noguchi.
Als das Drama um die favorisierte Paula Radcliffe seinen Lauf nahm, war
Mizuki Noguchi noch voller Energie. Die 1,50 Meter kleine und 41 Kilogramm
leichte Japanerin hatte sich von Beginn an an die Fersen von Paula Radcliffe
geheftet. Während die Britin Opfer ihres eigenen, hohen Anfangstempos
wurde, nutzte Noguchi die erste Schwäche und ließ die Favoritin
hinter sich. Als sie merkte, dass Paula Radcliffe nicht mehr folgen konnte,
warf sie übermütig einen Schwamm im hohen Bogen über die
Zuschauermassen hinweg. Die Vorfreude war ihr anzusehen.
Paula Radcliffe: "Verwüstet"
Währenddessen saß Paula Radcliffe weinend am Straßenrand und
wartete auf den Krankenwagen, der sie zum Ziel brachte. Auf die Frage, wie sie
sich fühle, sagte Paula Radcliffe gegenüber einem Reporter der BBC
nur ein einzigen Wort: „Verwüstet.“ Emotional und physisch sei
sie am Ende, erklärte ein Betreuer des britischen Teams.
Keine Kraft mehr für die Ehrenrunde In China und in
St. Moritz hatte Mizuki Noguchi sich in Höhentrainingslagern auf diesen
Marathon vorbereitet. Die Japanerinnen sind bekannt dafür, extrem hohe
Trainingsumfänge zu laufen und bis an ihre Grenzen zu gehen. Das tat sie
auch in Athen. „Ich bin einfach nur froh“, sagte Mizuki Noguchi im
Ziel. Für eine Ehrenrunde oder weitere Interviews reichte ihre Kraft nicht
mehr, die Japanerin hatte alles gegeben und konnte zunächst keinen Schritt
mehr laufen.
„Queen der Halbmarathonläuferinnen“.
Mizuki Noguchi ist in Japan bisher bekannt als die „Queen der
Halbmarathonläuferinnen“. Denn sie hatte bei den Weltmeisterschaften
über die Strecke ab 1999 nacheinander die Ränge zwei, vier, vier und
neun belegt sowie diverse Rennen über diese Distanz gewonnen. Ihr
Marathon-Debüt lief sie 2002 in Nagoya, ihre Bestzeit von 2:21:18 Stunden
erreichte sie ein Jahr später bei ihrem Sieg in Osaka. Bei der WM vor
einem Jahr war sie noch Zweite hinter Caterine Ndereba (Kenia), dieses Mal
drehte sie in ihrem vierten Marathonrennen das Ergebnis um – und
dürfte nun in Japan einen neuen Spitznamen erhalten.
Die Motivation für die Quälerei im Training und in Athen ist
für die Japanerinnen größer als anderswo. Denn nirgendwo auf
der Welt hat das Marathonlaufen einen derartigen Stellenwert wie in Japan. Wer
über die klassische Distanz erfolgreich ist, wird verehrt. Nachdem Naoko
Takahashi vor vier Jahren in Sydney Olympiasiegerin geworden war, verdiente sie
Millionen mit Werbeverträgen. Takahashi wurde sogar zu einer Comicfigur.
In der Comicserie wurde ihr Weltrekordlauf in Berlin 2001 dargestellt. Das Heft
mit einer hohen sechsstelligen Auflage war ausverkauft. Um nicht andauernd
angesprochen zu werden, so hat Naoko Takahashi erzählt, setzt sie eine
Sonnenbrille auf, wenn sie in ihrer Heimat auf die Straße geht. Das wird
Mizuki Noguchi nun auch bevorstehen.
Unterbrechung der Nachrichtensendungen
„Als der japanische Leichtathletik-Verband im März die Nominierung
des Marathon-Olympiateams bekannt gab, kamen über 100 Journalisten zur
Pressekonferenz. Fast alle wichtigen Fernsehstationen berichteten live von der
Bekanntgabe der sechs Namen, manche unterbrachen sogar ihre
Nachrichtensendungen“, erzählt Brendan Reilly, ein US-amerikanischer
Manager, der mit den Japanern zusammen arbeitet. Erstaunlich war damals, dass
die Japaner auf die Nominierung der Titelverteidigerin Naoko Takahashi
verzichteten.
„Es war eine harte Entscheidung“, erklärte der Cheftrainer
des japanischen Leichtathletik-Verbandes, Keisuke Sawaki, im März und
fügte hinzu: „Aber wir glauben, dass diese drei das Potenzial haben,
eine Medaille zu gewinnen.“
Er sollte Recht behalten.