Vor den Olympischen Spielen von Athen redete man in England nur von einer
Athletin, wenn es um einen möglichen Olympiasieg in der Leichtathletik
ging: Paula Radcliffe. Im Marathon galt Großbritanniens Sportlerin des
Jahres als fast unschlagbar. Doch nach einer Woche Leichtathletik in Athen war
alles anders. Die Briten hatten einen neuen Superstar: Kelly Holmes. Am Sonntag
stieg Paula Radcliffe entkräftet und in Tränen aus dem Marathon aus,
am Montag wurde Kelly Holmes sensationell Olympiasiegerin über 800 Meter.
Vier Tage später versuchte sich Radcliffe erneut erfolglos über
10.000 m. Auch dieses Rennen beendete sie nicht. Doch Tags darauf stürmte
Kelly Holmes zum zweiten Olympiagold über 1500 Meter.
Beim ISTAF wird Kelly Holmes nun am Sonntag im letzten Wettbewerb des
Hauptprogramms ihr erstes Rennen seit den Olympischen Spielen laufen. Die
34-Jährige startet über 1.500 Meter. „Ich fühle mich nicht
unter Druck, ich habe nichts zu beweisen. Ich gehe locker in das Rennen und
denke, dass ich gut laufen werde“, erklärte Kelly Holmes
gegenüber englischen Medien, bevor sie nach Berlin reiste.
Ursprünglich hatten auch die Meetings in Brüssel und Rieti in der
vergangenen Woche auf ihrem Wettkampfplan gestanden, doch Feierlichkeiten,
Ehrungen und Interviews nahmen in England kein Ende. Kelly Holmes musste ihren
ersten Start nach Athen verschieben.
Als die frühere Volleyballspielerin und Judokämpferin aus
Griechenland nach Hause zurückkehrte, wurde sie empfangen fast wie
Fußball-Weltmeister. Ein offener Doppeldecker-Bus fuhr Kelly Holmes durch
die kleine Stadt Tonbridge südöstlich von London. Die Fahrt wurde zum
Triumphzug, 80.000 Menschen jubelten ihr zu. Es heißt, in der Stadt sei
niemand mehr zu Hause gewesen – alle wollten die Kelly-Holmes-Parade
erleben. Fotos zeigen unglaubliche Szenen, gemessen daran, dass es eben keine
Fußball-WM war, die England gewonnen hatte. Kelly Holmes ist zurzeit der
Sportstar in Großbritannien schlechthin. Kein Fußball-, Cricket-
oder Rugbyspieler ist derart populär und gefragt. Nicht Paula Radcliffe
sondern Kelly Holmes tritt nun in Talkshows auf und füllt die
Sportseiten
Vor Athen war Kelly Holmes kein Siegertyp. Immer, wenn es so aussah als ob
sie eine Chance hätte, eine große Goldmedaille zu gewinnen, war
etwas dazwischen gekommen. Erst vor einem halben Jahr war die
Mittelstreckenläuferin als Favoritin bei den Hallen-Weltmeisterschaften an
den Start gegangen. Doch im 1.500-m-Finale stürzte sie. Schon vor sieben
Jahren, bei der WM in Athen, galt Kelly Holmes als Favoritin. Doch eine
Verletzung stoppte sie im Vorlauf. Einen globalen Titel hatte Kelly Holmes vor
Olympia nie zuvor gewonnen. Die größten Erfolge waren die Siege bei
den Commonwealth Games 1994 und 2002. Nun gelang ihr ein olympischer
Doppeltriumph, den nicht einmal ihr großes Vorbild Sebastian Coe
geschafft hatte.
„Ich habe immer vom Gold geträumt, seit ich zwölf Jahre alt
war – aber immer ging irgendetwas schief. Und ich dachte, dass auch
dieses Mal irgendetwas dazwischen kommen würde“, erklärte Kelly
Holmes, die vor zwei Jahren zu Trainer Margo Jennings wechselte. Seitdem
trainiert sie gemeinsam mit ihrer schärfsten Konkurrentin über 800
Meter, Maria Mutola (Mozambique). Das war offenbar der entscheidende Schritt
zum Erfolg.