Ein französischer Fernsehsender bittet Haile Gebrselassie darum, auf eine
weiße Tafel sein Ziel für die Leichtathletik-Weltmeisterschaften zu
schreiben, die am 23. August in Paris beginnen. “I want to win“
schreibt Haile Gebrselassie. Eigentlich ist das keine Frage für den
äthiopischen Langstreckenläufer, der in seiner Karriere 16
Weltrekorde aufgestellt hat, zweimal Olympiasieger wurde und neun
WM-Goldmedaillen gesammelt hat. Doch ganz unberechtigt war die Frage nach dem
Ziel bei der WM doch nicht. Denn der Saisonbeginn von Haile Gebrselassie ist
ungewöhnlich.
Beim Golden-League-Meeting in Paris startete der 30-Jährige zum ersten
Mal in diesem Jahr über 5.000 m, nachdem er in Hengelo vor einem Monat von
seinem Landsmann Kenenisa Bekele über 10.000 m bezwungen worden war. In
Paris hieß der Sieger am Ende wieder nicht Haile Gebrselassie. Und wie
schon gegen Bekele verlor er nun auch gegen den Kenianer Abraham Chebii im
Spurt, in dem er viele Jahre unschlagbar schien. Der Abstand war deutlich:
Chebii lief 12:53,37 Minuten, Gebrselassie war rund eine Sekunde langsamer.
Nach zwei Rennen stehen also zwei zweite Plätze zu Buche – Anfang
Juli hat Haile Gebrselassie noch nichts gewonnen.
“Ich bin kein schlechtes Rennen gelaufen. Ich wollte unter 13 Minuten
bleiben, und das habe ich geschafft. Allerdings habe ich seit einigen Tagen
einen Husten, der mich gestört hat.“ Immerhin lief der
5000-m-Weltrekordler (12:39,36 Minuten) trotz der Erkältung so schnell wie
seit vier Jahren nicht mehr. Einerseits ist das ein gutes Zeichen auf dem Weg
zur WM, bei der Haile Gebrselassie 10.000 m laufen möchte. Andererseits
wird die Luft für einen der besten Langstreckenläufer aller Zeiten
dünner. “Manchmal denkt man, man ist stark. Aber dann merkt man,
dass man doch noch nicht stark genug ist“, sagt Haile Gebrselassie. Dass
er seine Geschwindigkeit verloren hat, glaubt er nicht. “Es ist eher so,
dass die anderen Läufer stärker geworden sind.“
Der, dem Haile Gebrselassie vorhergesagt hat, dass er sein Nachfolger werden
kann, bezwang ihn in Hengelo: Kenenisa Bekele. Der gerade erst 21-Jährige
gewann bereits in diesem und im vergangenen Jahr beide Strecken bei den
Cross-Weltmeisterschaften. “Kenenisa ist mein Freund und zudem mein
Trainingspartner. Ich hoffe, dass er große Ambitionen hat“,
erklärt Haile Gebrselassie, der von sich selbst sagt: “Ich bin
genauso motiviert wie früher, und ich trainiere so viel und so hart wie
immer. Wenn ich verliere, akzeptiere ich das – verlieren gehört zum
Sport.“
Doch im Gegensatz zu Kenenisa Bekele sind Rivalen aufgetaucht, die Haile
Gebrselassie nicht einschätzen kann. “Ich kannte ihn nicht und
hätte nicht gedacht, dass er am Ende so schnell sein würde“,
sagte der Weltrekordler über den 5000-m-Sieger von Paris, Abraham Chebii.
Der 23-Jährige kommt aus Kenia und hatte seine enorme Spurtstärke
bereits beim Grand-Prix-Finale im vergangenen September unter Beweis gestellt.
Damals gewann er die 3000 m und legte dabei die letzten 400 Meter in 50,68
Sekunden zurück. Zum Vergleich, was das bedeutet: Zwei solcher Runden
führen nur haarscharf am 800-m-Weltrekord vorbei. Früher war es das
Problem der Kenianer, dass sie den Äthiopier im Spurt einfach nicht
schlagen konnten. Inzwischen scheinen die Rollen vertauscht. Ein anderer Mann,
über den Haile Gebrselassie sagt, “ich kannte ihn nicht“,
heißt Stephen Cherono. Der Kenianer gewann in Paris die 3000 Meter
Hindernis und führt die Jahresweltbestenliste über 5000 m an
(12:48,81 Minuten).
“Ich bin froh, die Gelegenheit genutzt zu haben, Haile geschlagen zu
haben. Denn so ein Sieg findet Beachtung in Kenia“, sagt Abraham Chebii.
Ein Ticket für die Weltmeisterschaften Ende August bekommt er dafür
aber nicht. “Ich muss mich sehr gut vorbereiten, denn die WM-Trials
werden hart.“ Ist es etwa schon so weit, dass es für die Kenianer
schwieriger ist, die WM-Qualifikation zu überstehen als Gebrselassie zu
schlagen? Auf diesen Vergleich lässt sich Abraham Chebii nicht ein:
“Man darf ihn nicht abschreiben – Gebrselassie wird stark sein bei
der WM. Aber über 10.000 Meter gibt es auch ein paar gute Kenianer.“
Man wird sie kennen lernen.