Entschuldigung.
Noch gar nicht so lange her, dass sich alle möglichen Menschen in aller
Öffentlichkeit immerzu entschuldigten. Der Kanzler für seine Politik,
Vorstände für ihre Gehälter, Filmsternchen für ihre
Affären. Heute entschuldige ich mich, zunächst bei den Leserinnen und
Lesern, weil ich nicht anders kann, als hemmungslos gut und ohne jedes
kritische Wort über dieses wunderbare Rennen zu schreiben.
Ich liebe es. Vergessen Sie die Berglaufexperten, die in ihren Vergleichen und
Rankings behaupten es gäbe steilere, schönere, anspruchsvollere,
schnellere Rennen im Gebirge. Es ist nicht wahr. Dieses Rennen ist das
Größte.
Beim K 78 in Davos sind 2.320 Höhenmeter sehr ungleichmäßig
über eine Strecke von 78,5 Kilometer verteilt. In zwölf Stunden
sollen die Läuferinnen und Läufer diese Strecke am letzten Samstag im
Juli bewältigt haben. Normalerweise genügend Zeit für
Frühstück, Wochenendeinkauf, Mittagessen, Rasen- und Autopflege,
Kaffee und Kuchen, Sportschau ...
Außerdem finden an diesem Samstag in und um Davos zwei verschiedene
Rennen über die Marathondistanz und ein Lauf über 30 Kilometer
statt.
Davos im Juli, Urlaubsstimmung
Davos im Juli, Urlaubsstimmung. Schon bei der Anreise mit der Rhätischen
Bahn zeigt die Landschaft in ihrer ganze Schönheit.
Modelleisenbahnlandschaft. Grüne Wiesen mit weidenden Kühen, kleine
Orte, wilde Bäche, Wälder und immer wieder das Panorama der Berge.
Wunderbar. Die ganze Stadt strahlt eine tiefe Ruhe und Freundlichkeit aus. Im
Hotel kennt man den Grund ihrer Reise, erkundigt sich nach der Form und hofft,
dass sie in diesem Jahr nicht wieder die Pflasterbestände im Haus
reduzieren, weil sie sich auf einer steilen Bergabpassage das Knie oder die
Hand aufgeschlagen haben.
Samstag 8.00 Uhr.
Die Sonne scheint, der Himmel ist blau. Die Läuferinnen und Läufer
werden vom gutgelaunten Stadionsprecher ermahnt, unterwegs reichlich zu trinken
und langsam zu laufen. Auch er wird heute einen langen Arbeitstag haben und
spät am Abend und immer noch gut gelaunt - „zeigen sie mir ihre
Nummer und ich sage ihnen wer sie sind“ - das Renngeschehen kommentieren.
Selbst erfahrene Langstreckenläufer gehen hier aufgeregt an den Start.
Leichte Panik, noch einmal zur Toilette und - zum drittenmal - - die
Schuhriemen kontrolliert.
Der Start.
Gemeinsam mit den Marathonläufern, die ihr Ziel in Bergün haben, und
den Teil-nehmern des 30 Kilometer Rennens geht es auf die Strecke. Eine weite
Runde durch Davos. Freundliches Publikum, bekannte Gesichter, man kennt sich
aus den letzten Jahren. Lockere Stimmung, da wir endlich losgelaufen sind.
Vorbei an grünen Wiesen, Kühen mit übergroßen Glocken,
Holzhäusern. Und überall das wunderbare Bild der Berge. Die roten
Züge der Rhätische Eisenbahn fahren Sonderschichten, um
möglichst viele Zuschauer an weiter entfernte Streckenteile zu
transportieren.
Langsam laufen ...
Um alles anzusehen, müsste man langsamer laufen. Langsam laufen, das
Problem zu Beginn des Rennens, man läuft hier eigentlich immer zu schnell
an. Bei Spina und Kilometer 10 gibt es das erste richtig steile Stück,
insgesamt führt die Strecke auf den ersten 32 Kilometern jedoch bergab.
Davos hat 1.500 Höhenmeter, Filisur bei Kilometer 30 nur 1.000. Bis
Filisur werden dunkle Wälder und das atemberaubende Landwassertal
durchquert. Ein schmaler Weg, ein wilder Bach, endlos steil aufragende Felsen.
Dann der schwindelerregende Viadukt in Wiesen. Die Läuferinnen und
Läufer überqueren den Gebirgsbach auf einem schmalen Holzbohlengehweg
direkt neben der Bahnlinie, gut 100 Meter über dem Talgrund.
„Mal sehen wie es in den Bergen wird.“
Filisur, die 30 Kilometer Läufer sind im Ziel. An der Verpflegungsstation
überwiegen nachdenkliche Gesichter. „Mal sehen wie es in den Bergen
wird.“ Bei Kilometer 32 ist der tiefste Punkt der Strecke erreicht und
von jetzt ab geht es 30 Kilometer weit fast nur bergauf - und wie. So richtig
beginnt der K 78 allerdings nicht erst hier, auch nicht an diesem 31. Juli um
acht Uhr früh.
Er beginnt spätestens drei Monate vor dem Startschuss. Bei mir stellt sich
meist nach dem ersten Frühjahrsmarathon das „Jan Ullrich
Gefühl“ ein:
Du bist zu langsam, zu fett, hast zu wenig trainiert und nur noch zwölf
Wochen Zeit. Von jetzt an steht die Vorbereitung auf Davos im Mittelpunkt des
Läuferlebens. Freunde werden vernachlässigt, kein Pizzaessen, kein
Italienisch-Kurs, kein Lauf in Ratingen, kein Kinoabend. Tut mir leid, ich
musste laufen. Deshalb, Jochen, Steffi, Bernd, Christine, Judith und
Andreas:
Entschuldigung.
Wer hier nicht anhält um zurück und über das Tal zu
schauen ist selber schuld ...
Bergauf bis Bergün, schmale Waldwege zunächst, dann die steile
Landstraße. Wer hier nicht anhält um zurück und über das
Tal zu schauen ist selber schuld. Viel Publikum ist heute im schönen alten
Bergün. Die Wege der Marathonläufer und der Langstreckler trennen
sich am Ortseingang. Um 11.30 startet in Bergün das zweite Marathonrennen
an diesem Tag. Die Läufer dieses Marathons haben fast dieselbe Strecke wie
die K 78er bis zum gemeinsamen Ziel in Davos. Langstreckler, die diesen Punkt
der Strecke vorher erreichen, werden von den frischen Marathonläuferinnen
und Marathonläufern eher früher als später überholt. Das
fachkundige Publikum kann die Teilnehmer der beiden Rennen an den
unterschiedlichen Startnummerfarben unterscheiden und der Applaus für die
Langstreckler ist immer eine Spur herzlicher. Hinter Bergün haben die
Läuferinnen und Läufer des K 78 einen Marathon in den Beinen und
einige haben, wie befürchtet, ihre Marathonbestzeit für dieses Jahr
eingestellt. Es ging schließlich lange bergab, die richtigen Steigungen
stehen noch bevor.
Ein Hochtal, bunte Blumen ... ... ... das Mittelfeld wandert
...
Mittag bei Kilometer 47, Strecke steil, Wetter heiß. Ein Hochtal, bunte
Blumen und wieder die wunderbare Aussicht auf die Berge. Chants, der letzte Ort
vor dem Auf-stieg zur Ketschhütte. Die Bäume werden kleiner, die
Landschaft rauer. Hinter Chants laufen nur noch die Allerbesten, das Mittelfeld
wandert, zwei Kilometer steil bergauf können so furchtbar lang sein. Die
Belohnung dafür gibt es bei Kilometer 50. Die erste Verpflegungsstation im
Hochgebirge jenseits der Baumgrenze. Essen und Trinken und ein langer Blick
zurück auf das Erreichte. „Da unten waren wir vorher
noch.“
Atemberaubend im wahrsten Sinne des Wortes. Bis zur Keschhütte geht es
dann durch hochalpine Felslandschaft. Sonne, blauer Himmel, klares Wasser quert
den Weg. Keschhütte, wir sind oben. Stimmung wie im Karneval, dass die
wenigen Zuschauer hier oben soviel gute Laune verbreiten können -
schön.
Erstmals führt unser Weg kurz und steil bergab, dann wieder hoch, zum
Panoramatrail, dem schönste Wegstück des Rennens.
Aussicht auf Berge, Berge, Berge ... ...
Ein schmaler Weg, Felsbrocken verschiedenster Größe
unregelmäßig darauf verteilt, links geht es weit und steil berghoch,
rechts geht es genauso bergab. Gras, Blumen, Felsen, blauer Himmel, Sonne und
die Aussicht auf Berge, Berge, Berge. Überholen ist auf diesem schmalen
Weg nur nach Vorankündigung möglich. „War es 2000 als es hier
immerzu geregnet hat und die Steine so furchtbar glatt waren?“ Ein sehr
schöner und unterhaltsamer Streckenabschnitt. Eine Verpflegungsstation an
einer der wenigen breiteren Stellen der Strecke. Die Getränke müssen
mit dem Hubschrauber transportiert werden.
Helferinnen und Helfer, die hier einen ganzen Tag lang im heißen
Hochgebirge arbeiten, sind wie in jedem Jahr geradezu unglaublich freundlich
und hilfsbereit. Überhaupt ist die Versorgung ist auf der ganzen Strecke
perfekt organisiert.
Höhepunkt und letzter Gipfel der Reise ...
Eine lange Linkskurve, der Scalettapass ist zu sehen, 2606 Meter,
Höhepunkt und letzter Gipfel der Reise durch die Graubündener
Alpenlandschaft. Auf dem Pass schaut uns der Rennarzt fest in die Augen und
schickt uns mit einem kräftigen Hän-dedruck auf die letzten 18
Kilometer. Keine Liebe ohne Krise, die nächsten Kilometer führen
steil, über Geröll und durch einige Schneefelder bergab, ich mag
diesen Teil der Strecke nicht, zu steil, zu steinig, will mich jetzt nicht mehr
auf den Weg konzentrieren, lieber Berge schauen. Dann ist Dürrboden
erreicht.
Zuschauer, die von Davos aus mit dem Rad oder zu Fuß hierhin gekommen
sind, sorgen für gute Stimmung und eine schöne Abwechslung nach dem
nahezu zuschauerfreien Hochgebirge.
... warum, liebe Berliner, habt ihr den schönen
Havelhöhenweg so furchtbar perfekt renoviert ... ... ?
Die letzten 13 Kilometer: Lang und stetig bergab führt die Strecke durchs
Tal der Dischma. Die Farben der Wiesen sind jetzt nicht mehr so leuchtend, es
wird Abend. Diese letzten Kilometer sind ist manchmal ein Kinderspiel, manchmal
der reine Frust. War es 2001? Ich war so am Ende, dass ich mich auf eine Bank
gelegt habe und für zwanzig Minuten eingeschlafen bin. In diesem Jahr geht
es glatt und gut. Die vielen Trainingskilometer zahlen sich spätestens
hier aus. Zuletzt hatte Ute darunter zu leiden, die nur im Schlachtensee
schwimmen wollte und mich dann drei Stunden lang wassertragend und auf dem Rad
über sandige Grunewaldwege - warum, liebe Berliner, habt ihr den
schönen Havelhöhenweg so furchtbar perfekt renoviert?
Der war früher viel schöner - begleitet hat, bis das Sitzen schwer
fiel und ein Knie schmerzte:
Entschuldigung.
Verschwitzte Läufer begegnen gebügelten Golfern
...
Der letzte Anstieg für heute kurz vor Davos. Verschwitzte Läufer
begegnen gebügelten Golfern. Seit dem letzten Jahr führt die Strecke
dann einen langen und langweiligen Kilometer durch eine unbelebte
Nebenstraße und das, liebe Veranstalter, solltet ihr schnellstens wieder
ändern. Publikum in der Stadt, das Stadion ist menschenvoll,
fröhliche Zuschauer, Applaus:
Im Ziel.
Ich hatte immer den Verdacht, dass sich die anfangs zitierten berühmten
Menschen nur entschuldigen, weil Öffentlichkeit, Freunde, Familie das so
erwarten. Beim Aus-sprechen der Entschuldigung wissen sie ganz genau, dass sie
sich in Zukunft nicht anders verhalten werden. Natürlich werde ich am
30. Juli 2005 wieder in Davos laufen und in den Monaten vorher
sehr beschäftigt sein:
Entschuldigung.
Frank Bielefeld
Ergebnisse und Fotos zum Rennen gibt es unter:
www.swissalpine.ch