Manches spricht dafür, dass das der beste 10.000-m-Lauf einer Frau aller
Zeiten war. Am Montagabend goss es im Münchener Olympiastadion wie aus
Kübeln, doch weder die Wassermassen noch die Konkurrentinnen konnten Paula
Radcliffe an diesem Abend aufhalten. Die 28-jährige Engländerin
vollbrachte eine Meisterleistung im Alleingang. Mit 30:01,09 Minuten stellte
sie einen Europarekord auf und lief die zweitschnellste Zeit aller Zeiten.
Gebrochen war die 16 Jahre alte Bestmarke der Norwegerin Ingrid Kristiansen,
die am 5. Juli 1986 in Oslo 30:13,74 Minuten gelaufen war. Einzig die Chinesin
Junxia Wang war 1993 in Peking mit 29:31,78 schneller als Paula Radcliffe. Doch
nicht wenige Beobachter glauben, am Eröffnungstag der Münchener
Europameisterschaften den echten Weltrekord gesehen zu haben. Denn zu sehr sind
die Fabelzeiten der Chinesinnen aus dem Jahre 1993 mit dem Verdacht des Dopings
behaftet. Zumal Junxia Wang danach nie mehr in diese Bereiche vorstieß.
"Ich weiß nicht, ob ich den richtigen Weltrekord gesehen habe,
ich habe darüber noch nicht nachgedacht", antwortete Sonia OSullivan,
die in 30:47,59 Minuten die Silbermedaille für Irland gewonnen hatte, auf
die entsprechende Frage eines Journalisten. Dritte wurde in diesem
denkwürdigen Finale die Russin Ludmila Biktaschewa, die in 31:04,00
Minuten eine der wenigen Läuferinnen war, die von Paula Radcliffe nicht
überrundet worden war. Eines fügte Sonia OSullivan noch hinzu:
"Was wir heute gesehen haben, zeigt, was eine Athletin erreichen kann,
wenn sie hart trainiert." Das sagt viel über den Stellenwert der
neuen Europameisterin.
Paula Radcliffe, die im April den London-Marathon bei ihrem Debüt in
2:18:56 Stunden gewonnen hatte und dabei in einem ebenso sensationellen Rennen
die Weltbestzeit lediglich um neun Sekunden verpasst hatte, ist ein Vorbild in
jeder Hinsicht. Und sie gilt als sauber, zumal ihre Leistungsentwicklung eine
gleichmäßige ist. Sie wurde über Jahre hinweg kontinuierlich
schneller. Und sie kämpft engagiert gegen Doping. Nachdem die russische
Läuferin Olga Jegorowa im vergangenen Jahr nach einer positiven
Blutdoping-Kontrolle nur deswegen nicht gesperrt wurde, weil ein
Verfahrensfehler vorlag, war es Paula Radcliffe, die im Stadion mit einer
Teamkollegin ein Plakat in die Höhe hielt: Epo cheats out -
Epo-Betrüger raus. Das Blutdopingmittel macht Langstreckenläufer
schneller.
Bis vor elf Tagen hatte Paula Radcliffe, die große Teile des Jahres in
den Pyrenäen trainiert und perfekt Französisch sowie gut Deutsch
spricht, ein großes Manko: Sie konnte bei den wichtigen Titelkämpfen
auf der Bahn einfach nicht gewinnen. Immer wieder mussten ihre Fans in den
letzten Jahren verzweifelt mit ansehen, wie sich Paula Radcliffe, deren
Laufstil quälend aussieht wie der von Emil Zatopek, um das Tempo
bemühte, um dann am Ende im Sprint zu verlieren. Vierte Plätze bei
Olympia 2000 und der WM 2001 waren die Höhepunkte eines jahrelangen
Leidensweges. Es sah so aus, als könne Paula Radcliffe nicht gewinnen. In
Tränen aufgelöst, konnte sie einem leid tun, während sich
clevere afrikanische Läuferinnen auf die Ehrenrunde begaben.
Doch in diesem Jahr ist alles anders. Denn Paula Radcliffe gewinnt alles:
die Cross-WM, den London-Marathon, die 10.000 m bei den Commonwealth Games vor
elf Tagen und nun die EM. "Ich weiß nicht genau, warum das jetzt so
ist - ich hoffe nur, es geht so weiter", sagt Paula Radcliffe und
erklärt: "Der London-Marathon war eine wertvolle Erfahrung. Durch
diesen Erfolg bin ich stärker und auch lockerer geworden." Schon in
London hatte sie Ingrid Kristiansen den Marathon-Europarekord abgenommen.
"In München war mein wichtigstes Ziel, zu gewinnen. Aber ich wusste,
dass ich in der Lage bin, etwa 30 Minuten zu laufen und den Europarekord zu
brechen", erzählt Paula Radcliffe, für die Ingrid Kristiansen
immer ein Vorbild gewesen ist. "Es ist etwas besonderes, ihre
Europarekorde verbessert zu haben."
Das einzige, was Paula Radcliffe in München etwas enttäuschte, war
die ganz knapp verpasste Zeit unter 30 Minuten. Ob sie sich zutraut, eines
Tages auch den Weltrekord zu brechen" "Ich setze mir prinzipiell
keine Limits. Ich werde weiter hart trainieren und dann sehen, was heraus
kommt." Je nachdem, wie gut sie sich von ihrem Rekordlauf erholt, wird
Paula Radcliffe in München auch noch über 5000 Meter an den Start
gehen. Ihr Trainer und Ehemann, der frühere 1500-m-Läufer Gary Lough,
kommentiert das mit einem Lächeln: "Sie entscheidet, ich trage hier
nur die Taschen."
Ein couragiertes und erfolgreiches Rennen zeigte Sabrina Mockenhaupt (LG
Sieg), die bei ihrer ersten großen Meisterschaft einen beachtlichen
zehnten Platz erreichte und dabei in 32:08,52 Minuten ihre Bestzeit um fast 20
Sekunden verbesserte. Die 21-Jährige lief ihr Tempo und fiel daher anfangs
schnell zurück. "Da dachte ich, das sieht jetzt wieder so aus, als ob
die Deutsche gar nichts kann." Doch Sabrina Mockenhaupt konnte viel. Eine
Läuferin nach der anderen, die alle dem zu hohen Anfangstempo Tribut
zollen mussten, holte sie ein. "Das war natürlich optimal für
mich. Ich bin sehr zufrieden mit meiner Leistung, schließlich war ich die
jüngste im Feld. Paula läuft natürlich in einer anderen
Dimension, aber von mir kann man in Zukunft auch noch viel erwarten. Ich habe
ja schließlich erst mit 16 Jahren mit dem Laufen angefangen."