Von Robert Hartmann
NAIROBI - Noch nie war die sonst vor Stolz berstende kenianische
Leichtathletik-Gemeinde so hasenfüßig wie vor den
Olympia-Ausscheidungen in Nairobi. Der Nationaltrainer Mike Kosgei brachte die
Stimmung auf den Punkt. "Die äthiopische Explosion kam wie eine
Stichflammme auf dem Herd", sagt er und meint eigentlich nur einen Mann:
Kenenisa Bekele
Der 22-jährige Langstreckler stellte in Hengelo und Ostrava zwei
neue großartige Weltrekorde über 5 000 Meter und 10 000 Meter
auf; zuvor war er im März in Brüssel bereits zum dritten
Doppelweltmeister im Cross-Lauf geworden. Kenenisa Bekele besitzt bei den
südlichen Nachbarn in Ostafrika einen Ruf, der nichts als Angst und
Schrecken verbreitet.
Ein Vorstandsmitglied von Athletics Kenya, dem nationalen Fachverband,
befürchtet schon öffentlich, dass seine jungen Landsleute im August
sogar ohne jede Medaille von den Olympischen Spielen aus Athen heimkehren
werden.
Überhaupt ist die Stimmung ausgesprochen mies.
Ausgerechnet der talentierteste und mental härteste Athlet, der
Weltmeister über 3 000 Meter Hindernis, Stephen Cherono alias Saeed Seif
Shaheen, wechselte im vergangenen Jahr die Seiten. Er ist jetzt Bürger des
Ölscheichtums Katar, darf aber nicht in Athen laufen. Doch das Geld lockt,
schon acht Kollegen folgten ihm ins Ausland.
Sperre für Fahnenflucht
Denn als auch noch Bahrain, Jemen und Saudi-Arabien unverfroren in den
weiten Savannen auf Einkaufstour gingen, war der Siedepunkt des Volkszorns
erreicht. Aber nicht die kenianischen Funktionäre stoppten den Ausverkauf,
sondern der Weltdachverband IAAF in Monaco tat es.
Künftig wird jeder Fahnenflüchtige mit einer dreijährigen Sperre
belegt. Damit ist die Situation vorerst abgekühlt.
Der frühere Weltklasse-Hindernis-Läufer Patrick Sang brachte als
Trainer immerhin drei Weltmeister der Jahre 2001 und 2003 heraus, Reuben Kosgei
über die Hindernisse und Richard Limo sowie Eluid Kipchoge über 5 000
Meter, der voriges Jahr in Paris auch Bekele im Spurt besiegte. "Ich
glaube immer noch, dass wir spannende Ausscheidungen mit vielen
Überraschungen sehen.
Vorleistungen zählen nicht", sagt Sang. Die Lage erinnere ihn an
1992.
Damals unterlagen bei den Olympic Trials sensationell acht der neun
früheren Weltmeister und Olympiasieger dem Ansturm der jungen Namenlosen,
und was passierte später in Barcelona? Sie holten acht
Medaillen.
Nicht, dass Sang ein rosarotes Bild zeichnen wollte. "Wir setzen die
falschen Prioritäten. Der Verband hat keine Strategie, kein Programm, er
kümmert sich nicht um die Jugend." Er fragt den neben ihm sitzenden
irischen Brother Colm OConnell, was die Funktionäre für seine zwei
neuesten Jungstars getan hätten. "Nichts", lautet die Antwort.
"Ich bezahle ihre Schulgebühren aus meiner eigenen Tasche." Der
fromme Mann gilt als der erfolgreichste Aufspürer kenianischer
Laufbegabungen im Läuferland.
Die Funktionäre machen Politik, nicht Sport. Wichtig
ist nur, wie sie an das Geld der Athleten heran kommen. Es hat sich in
Jahrzehnten nichts geändert.
Ihre Rolle als Leistungsproduzenten übernahmen die
europäischen Manager und ihre Helfer vor Ort, Trainer, die sie
bezahlen. Aber in Zukunft, fürchtet Patrick Sang, der
Erfolgstrainer, reiche das nicht mehr aus. Er hat schon einen neuen
großen Rivalen ausgemacht, seit im Sudan nach jahrzehntelangem
Bürgerkrieg die Friedensgespräche erfolgreich abgeschlossen worden
sind: "Als Nächstes erwarte ich den Aufstieg der
sudanesischen Läufer", sagt er.
Den größten Bockmist leisteten sich die kenianischen
Funktionäre allerdings erst am Montag. Da teilten sie nämlich einen
Beschluss mit, bei den eminent wichtigen Wettkämpfen, den Trials, bewusst
auf Dopingkontrollen zu verzichten. "Wir dachten", erläuterte
Verbandsarzt Kimani Wajama, "dass der Dopingmissbrauch in Kenia keine so
wichtige Rolle spielt."
Da sollte er sich besser nicht täuschen. Es geht schließlich auch
um viel Geld. Die Geschichte mit dem Prestige und dem Nationalstolz liegt schon
lange zurück - als sich die alten Stars der sechziger und siebziger Jahre
für drei Dollar Tagegeld die Seele aus dem Leib rannten.
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