"Das ist im Olympiazyklus seit 1996 unser bislang schwächstes
Jahr. Da gibt es kein Herumreden: Wir haben an Boden verloren, denn in diesem
Jahr sind wir ganz im Gegensatz zu Athen, Budapest und Sevilla sogar bei den
Frauen ohne Spitzenergebnis!" Ohne Umschweife kommt Bundestrainer Wolfgang
Heinig zum Punkt. Viel Pech jedoch spielte dabei eine nicht unwesentliche
Rolle: Die deutsche Vorzeigeläuferin Katrin Dörre-Heinig war nach
einer Fersensporn-Operation nicht rechtzeitig in Form, Claudia Dreher ereilte
das Olympiaaus noch in Sydney wegen einer Bronchitis und Sonja Oberem kam mit
dem welligen Olympiakurs keinen Kilometer zurecht und blieb mit muskulären
Problemen als 24. klar unter Wert. Wäre da nicht eine Melanie Kraus wenige
Tage zuvor bei ihrem Debüt in Berlin starke 2:27:58 gelaufen - die Saison
wäre rasch abzuhaken.
"Für Melanie war Berlin ein großer Schritt, der zu
Saisonbeginn nicht geplant war" freute sich Trainer Paul-Heinz Wellmann
über den überraschenden Coup seines Schützlings, der zuvor in
Troisdorf und Straßburg vergeblich der 10 000 m-Olympianorm
hinterhergerannt war. "Der Termin passte gut und mit Sonja ließe
sich vieles gemeinsam machen!" Die Endzeit von 2:27:58 lag deutlich unter
dem Marschplan, den Wellmann vorsichtig zwischen 2:29 und 2:31 angesiedelt
hatte. In der Einschätzung lag der Trainer gewiss etwas daneben, was eher
für das Talent der Melanie Kraus für die langen Strecken spricht.
Zumal die 26jährige Apothekerin dieses schon im Vorjahr auf der halben
Distanz bei der "Route du Vin" am Luxemburger Moselufer mit 1:09:36
anzudeuten wusste. "Bessere internationale Platzierungen sind auf der
Straße möglich", schätzte Paul-Heinz Wellmann angesichts
der gedrängten Konkurrenz auf der 10 000 m-Strecke ein, auch wenn auch auf
den Straßendistanzen die Dichte merklich zugenommen hat.
So wird die Kölnerin im Trikot des TSV Bayer Leverkusen vier
Plätze hinter ihrer Trainings- und Clubkollegin Sonja Oberem auf Position
41 weltweit geführt. Für die frühere Triathletin lag vor Sydney
alles im Lot, denn nach Rang acht in Osaka (2:31:03) folgte im Mai als Dritte
beim Wien-Marathon hinter der überragenden Maura Vieconte und Hellen
Kimutai mit 2:27:35 die längst erwartete neue Bestmarke. Ich denke, dass
Wien noch nicht mein letztes Wort war!" blickte Sonja Oberem voller
Tatendrang in Wien bereits in Richtung Sydney. Doch es wurde für die
Olympiaachte von Atlanta eher Krampf und Kampf mit muskulären Problemen
als Hemmschuh.
"So stelle ich mir einen Einstieg vor!" lobt Bundestrainer Heinig
die Umsteigerin Melanie Kraus. "Warum sollen das nicht auch Athletinnen
wie Petra Wassiluk oder vielleicht auch Luminita Zaituc können, von der
ich weiß, dass sie sich künftig mehr mit der Straße
beschäftigen wird!" Den Bundestrainer wirds freuen, denn im August
finden in Edmonton wieder Weltmeisterschaften statt - und bei derartigen
Anlässen ist der DLV mit der Frauenabteilung stets für
Spitzenleistungen auf dem Sprung. Oberem, Kraus und die nach einer
Stressfraktur wieder im Training befindlichen Claudia Dreher weiß Heinig
ein starkes Team für Edmonton in der Planung. Tut auch Not, wenn der
Marathon auch weiterhin an der Förderung des Verbandes Anteil haben
möchte. "Unsere Frauen der zweiten Reihe brauchen zu lange, bis sie
unter 2:30 laufen können", schätzt der Bundestrainer ein und
meint dabei Manuela Zipse oder Anke Laws, die nach der Babypause wieder ins
Marathongeschehen eingreifen dürfte. Belebung wird es außerdem auch
durch Kathrin Weßel geben, die sich zunächst bei kleineren Rennen
zurückgemeldet hat und künftig verstärkt auf Marathon setzen
wird. Auch Iris Biba bemüht sich nach einer Achillessehnenopereration noch
einmal um den Anschluss. "Allerdings frage ich mich, ob dies die richtigen
Athletinnen sind, auf die wir in Zukunft setzen können" wägt
Wolfgang Heinig ab und blickt eher mit Sorgen auf die Weltspitze, die sich
verstärkt im Bereich zwischen 2:21 und 2:23 angesiedelt hat. "Sonja,
Claudia und natürlich Melanie haben im Training noch längst nicht
ausgereizt. Wichtig ist für uns, dass sich nicht jede abkapselt, sein
eigenes Ding macht, sondern dass wir gemeinsam eine Linie fahren!" Den
Schlüssel im Erfolg sieht Heinig in letzter Konsequenz im Gruppentraining
- und nur dazu wird der DLV auch die nötigen Mittel zur Verfügung
stellen. "Wir haben international nur dann noch eine Chance, wenn wir
professionell arbeiten. Ein Studium ist gewiss ehrenwert, aber in der
Marathon-Weltspitze laufen absolut reine Profis! Das heißt, nicht nur
nichts arbeiten, sondern auch das entsprechende Umfeld schaffen! Das kann in
der Tat funktionieren, Beispiele haben wir mit Katrin Dörre, Uta Pippig
oder nun auch Claudia Dreher".
Während für Deutschlands Vorzeigeläuferin Katrin
Dörre-Heinig nach einem Neuanfang in der nacholympischen Saison in 2002
unwiederruflich Schluss sein wird, muss Bundestrainer Wolfgang Heinig mit
Nachdruck den Boden bereiten müssen für die Ära nach den Oberem,
Dreher und Co. Einen sanften Einstieg über die Halbmarathon-WM Anfang
Oktober im englischen Bristol sieht Heinig nur dann als sinnvoll an, wenn
Endzeiten unter siebzig Minuten zu erwarten sind. Angesichts der Flaute in der
aktuellen Rangliste dürfte dies Utopie bleiben. "Bei uns herrscht die
Meinung vor, wenn ich Halbmarathon laufe, kann ich keine 5000 m oder 10 000 m
laufen. Das ist ein Irrtum!" und blickt auffordernd in Richtung der jungen
Langstrecklerinnen wie Susanne Ritter, die mit viel Courage schon in Freiburg
gewisse Neigungen ankündigten.
"Wir haben ein echtes Nachwuchsproblem" bekennt Jürgen
Stephan, der bis zum Oktober vergangenen Jahres für den weiblichen
Straßen-Nachwuchs verantwortlich zeichnete. "Wenn der DLV nicht
rasch gegenlenkt, dann ist in einem Jahr völlig Funkstille!" Die in
Duisburg als Titelträgerin überraschende Ines Cronjäger,
Halbmarathon-Länderkampf-Siegerin Anja Carlsohn oder Andrea Kupper sind
für Stephan die letzten Zeitzeugen einer zielorientierten Sichtungs- und
Nachwuchsarbeit, die komplett wegbrechen wird, "wenn sich keiner mehr von
Verbandsseite aus zuständig fühlt. Dann können wir nur noch
hoffen, dass es solche Zufallsprodukte wie Wolfram Müller gibt, der
einfach auch den richtigen Heimtrainer zur Seite hat!"
Wilfried Raatz