Um es vorweg zu sagen, Wattenscheid war gewiss keine Offenbarung
für den Deutschen Leichtathletik-Verband, doch die Zukunft ist keineswegs
so düster, wie es noch vor einigen Wochen ausgesehen hat. Unter der Rubrik
„Perspektiven“ hat sich nämlich bei den Titelkämpfen im
Lohrheidestadion schon die eine oder andere Zukunftsinvestition
aufgedrängt. René Herms, der deutlich seiner Sydney-Form hinterher
laufende Nils Schumann, Franek Haschke und weiter mit Abstrichen aber auch die
5000 m-Läufer Jan Fitschen, Mario Kröckert, Michael May sowie die
eher junge Hindernisgarde um Filmon Ghirmai und die eher zu längeren
Strecken tendierenden Alexander Lubina und Sabrina Mockenhaupt. Wattenscheid
hat aber auch Defizite offenbart, denn die Decke hinter einer kleinen Spitze
ist fast durch die Bank ausgedünnt. Ausfallende Vorläufe bzw.
Vorläufe mit Farce-Charakter sind erkennbare Signale. Hier ist der DLV mit
der Leistungssportabteilung und den zuständigen Disziplintrainern
einerseits gefordert, aber andererseits sind „Privatinitiativen“
wie die in Wattenscheid vorgestellte „Trainerschuhe Ruhr“ dringend
notwendig, um langfristige Akzente für den Laufbereich setzen zu
können. Olympia 2012 ist ein trefflicher Aufhänger, zumal allenorts
plötzlich Gelder locker gemacht werden (können). Es bleibt allerdings
zu hoffen, dass diese Geldquellen nicht schon im Frühjahr 2003 und
spätestens 2004 versiegen, wenn der deutsche Bewerber um die Olympiade
2012 auf der Strecke bleiben sollte.
800 m Männer: Harms schlug Schumann mit dessen
Waffen
Der Turbo des Olympiasiegers stockte auf der Zielgeraden, die Gegenwehr gegen
den heranfliegenden Herausforderer eine bescheidene. „Dass mir hinten
heraus ein Stück fehlt, war nicht vorauszusehen“, gestand ein
sichtlich konsternierter Nils Schumann nach einem heißen Sprintfinale mit
überraschendem Ausgang. Dabei hatte sich der Erfurter seinen Auftritt im
Lohrheidestadion gewiss anders vorgestellt, auch wenn die Sydneyform nach den
eher zaghaften Saisonstarts nicht unbedingt zu Optimismus Anlass geben durfte.
„Wenn man gegen einen Olympiasieger laufen kann, gibt man 102
Prozent“, freute sich dagegen René Herms nach seinem Coup, der im
Grunde genommen eine Kopie Schumannscher Laufmanier ist. Der in Abwesenheit von
Schumann im letzten Jahr schon zu Titelehrren gekommene 19jährige
Läufer aus Pirna gab in der Tat im Lohrheidestadion alles, lief mit
1:45,85 eine vorzügliche Bestzeit und gilt somit neben Schumann als ein
heißes Eisen für den DLV in München. Nahezu unbemerkt vollzieht
sich hingegen der Abschied von Nico Motchebon, der sich nach leichtem
Muskelziehen auf dem Aufwärmplatz zur Vorlaufzeit schon aus dem
Wettkampfgeschehen verabschieden musste – nach den eher bescheidenen
Auftritten der Saison zeichnet sich ein lautloser Abgang eines Großen der
800 m-Strecke ab.... Bronze gewann übrigens mit Christian Köhler ein
junger Mann aus der Rostocker Läufergarde von Klaus-Peter Weippert, der
sich anschickt, seine erfolgreichen Titelsammler der Jugendklasse nun auch
Stück für Stück in die Aktivenklasse hinein zu verpflanzen.
1500 m Männer: Haschke hochmotiviert zum
Alleingang
Franek Haschke legte vor – und René Herms vollendete, so
lässt sich die aufregende Titeljagd der Pirna-Jungs auch ohne Wolfram
Müller auf den Punkt bringen. „Ja, es ist schon hart, wenn es in
unserer Gruppe richtig zur Sache geht“ plauderte Franek Haschke aus dem
Nähkästchen. Und es wurde richtig hart für den 22jährigen
im Lohrheidestadion nach seiner furiosen Auftaktrunde in 56 Sekunden.
„Ich war so motiviert“ gestand Franek. Damit nahm er offensichtlich
der deutlich unterlegenen Konkurrenz den Schneid, auch wenn der stark
verbesserte Mark Rapp mit Philipp Legath und Christian Güssow im Schlepp
den Abstand nicht zu groß werden lassen wollte. Franek Haschke knickte
erst auf der Zielgeraden merklich ein, doch der Riesenvorsprung des
Jahresschnellsten war zu groß, um die wie enfesselt um Rang zwei
fightenden Legath und Rapp noch ernsthaft ins Spiel zu bringen. „Mir hat
einer gefehlt, der nach drei Runden einfach dagegen gehalten hätte“,
entschuldigte sich quasi der neue Meister über die letztlich nur 3:43,02
Minuten, „nach 1200 Metern habe ich gespürt, dass es sehr, sehr hart
werden würde!“ Doch es hat gereicht zum 1500 m-Titel, der nach dem
Müller-Triumpf von Stuttgart für ein weiteres Jahr in Pirna bleibt.
Glückliches Ende aber auch für Philipp Legath, der sich zwei Sekunden
hinter Franek Haschke die Vizemeisterschaft sichern sollte.
5000 m Männer: Jan Fitschen nutzt Heimvorteil
Im Lohrheidestadion konnte eigentlich nur ein Wattenscheider gewinnen –
und Jan Fitschen hat es für seinen Club, den TV Wattenscheid 01, getan.
Ein nicht unbedingt schnelles Rennen war geradezu eine Einladung für den
25jährigen, der sich seit zwei Jahren um den Umstieg von der 1500 m- zur
5000 m-Strecke bemüht. „Der Spurt war eigentlich schon immer meine
Stärke“, bedankte sich Jan Fitschen freudestrahlend für die
Einladung der Konkurrenz, das Rennen zwar zügig, doch nicht zu schnell zu
gestalten. Ein sichtlich noch unter den Nachwirkungen seiner langwierigen
Verletzung laborierender Sebastian Hallmann hatte sich zwar anfangs um eine
flotte Gangart bemüht, doch alleine konnte er diese Herkulesarbeit nicht
verrichten. Mal Carsten Schütz, mal Alexander Lubina an der Spitze, die
Zuschauer im weiten Rund der herrlichen Leichtathletikanlage im Bochumer
Stadtteil Wattenscheid dankten jedenfalls die beherzten Auftritte der
„TVW“-Athleten mit starkem Jubel. Und beflügelten zu
besonderer Kraftanstrengung. Rang eins für Fitschen, vier für Lubina
und acht für Schütz, die Bilanz der Trainingsgruppe von Tono
Kirschbaum jedenfalls konnte sich vor den 18 000 Zuschauern am Samstagabend
durchaus sehen lassen. Meister Jan Fitschen wird die DLV-Farben in München
vertreten können, auch wenn er die hohe Hürde der DLV-Norm von 13:25
nicht überspringen konnte. Die Hintertür, DM-Titel und
„EAA-Norm“, machts jedenfalls möglich. Aber auch der
zweitplatzierte Mario Kröckert wird zur EM fahren können: Der
22jährige Leverkusener hatte bereits im Vorfeld mit 13:34,30 die
„weiche“ DLV-Norm für Nachwuchsathleten geschafft, wird in
München allerdings seine Chancen (übrigens mit dem in Wattenscheid
wegen einer Erkältung fehlenden europäischen Jahresbesten Dieter
Baumann) über 10 000 m wahrnehmen. Zehn Läufer blieben über 5000
m unter 14:00 Minuten, eine Barriere, die, wie ZDF-Sportchef Wolf-Dieter
Poschmann in einem Pressegespräch zur Eröffnung der „Laufschule
Ruhr“ erinnerte, vor zwanzig Jahren gerade einmal nach drei
hartumkämpften Vorläufen zum Finaleinzug (!) ausreichten. Doch die
Situation ist heute eine völlig andere, die seinerzeit tonangebenden
Athleten wie Klaus-Peter Hildenbrand, Detlef Uhlemann oder Hans-Jürgen
Orthmann sind eine Erinnerung an bessere Zeiten....
3000 m Hindernis Männer: Das „Riesending“ des
Filmon Ghirmai
Damian Kallabis war konsterniert und verständlicherweise kurz angebunden:
„Das war doch wenigstens etwas für die Zuschauer!“ Und
vollendete sein Statement sarkastisch mit „Second Place is the first
looser!“ Zu tief saß der Schock der überraschenden
Spurtniederlage gegen Filmon Ghirmai, der seine, erst vor wenigen Tagen in
Luzern erzielte Jahresbestmarke von 8:24,58, damit gewiss eindrucksvoll
bestätigte. „Ich habe eigentlich taktisch nichts falsch gemacht,
sondern wie gewohnt, meinen langen Spurt angezogen!“ Doch der Schwabe
hatte seine Rechnung ohne einen anderen Schwaben gemacht, den seit seinem
sechsten Lebensjahr in Gomaringen lebenden, inzwischen aber in der
Baumann-Gruppe an seinem Studienort Tübingen trainierenden
„Fili“ Ghirmai. Erfrischend locker plauderte der
Überraschungsmeister im staunenden Journalistenkreis drauflos: „Mit
dem Titel habe ich überhaupt nicht gerechnet, zumal ich mich gestern noch
völlig schlapp gefühlt hatte. Aber das ist nun ein Riesending
für mich!“ Und widmete im gleichen Moment diesen
Überraschungscoup seinem langjährigen Trainer Alexander Seeger, von
dem er sich erst vor zwei Wochen getrennt hatte, um mit der intensiven
Betreuung von Isabelle Baumann zum Sprung in die Internationale Klasse
anzusetzen. Wenige Schritte entfernt packte ein enttäuschter Ralf Assmus
seine Klamotten zusammen. „Das mit der EM hat sich damit wohl erledigt,
ich bin einfach dafür nicht gut genug!“ Nüchternes Fazit
für einen, dem nach Rang neun in Edmonton schon auf dem Sprung in die
Weltelite war, aber nach einer Operation heuer den Anschluss noch nicht wieder
gefunden hat... Erfreulich, dass Bundestrainer Dieter Hermann eine junge,
leistungsstarke Spitze um sich herum weiss, die mit Perspektiven die
große Tradition dieser Disziplin fortsetzen kann. Damian Kallabis ist mit
29 Jahren der „Oldie“, der Überraschungsmeister Ghirmai ist
22, Aßmus 25, der im dramatischen Finale regelrecht untergegangene Vierte
Raphael Schäfer 21, der anfangs mit Mut zum Risiko tempomachende Steffen
Preuk sogar erst zwanzig!
800 m Frauen: Claudia Gesells Meisterstück!
„Das ist mein schönster Meistertitel“ jubelte Claudia Gesell
im Ziel des hochkarätigen 800 m-Finales und wischte sich zugleich einige
Tränen aus dem Auge. Die Oberbayerin im Trikot des TSV Bayer 04 Leverkusen
ist nach dem Bandscheibenvorfall 2001 wieder zurück – in der
Erfolgsspur. Pech für Ivonne Teichmann, die mit 2:00,07 die deutsche
Jahresbestzeit hält, aber im entscheidenden Sprint um einen Hauch zu
langsam war. Dabei hatte die Madgeburgerin alle Voraussetzungen für eine
erfolgreiche Titelverteidigung mit einem lang gezogenen Spurt geschaffen. Eine
Anja Knippel konnte sie abschütteln, aber nicht die kampfstarke Claudia
Gesell. Die Meisterin ist nach ihrem Sieg in 2:00,97 mit Sicherheit dabei, die
Zweite Ivonne Teichmann gewiss auch. Denn so viele hochkarätige
Zweifelsfälle auf internationalem Niveau kann es im DLV nun wirklich nicht
geben.
1500 m Frauen: Kathleen Friedrich über den Titel nach
München
Die Siegerin hat immer Recht. Dies gilt in diesem Falle gewiss für
Kathleen Friedrich, die Potsdamerin im Trikot des LAC Erdgas Chemnitz. Vor zwei
Wochen musste die 25jährige dem Feld beim Europacup-Finale im
französischen Annecy noch hinterher laufen, da Atembeschwerden eine
schnelle Gangart unmöglich machten. Im DM-Finale in Wattenscheid lief sie
ebenfalls hinterher, doch nur 1300 m lang der aufopfernd um die EM-Norm von
4:07 kämpfende Kristina da Fonseca-Wollheim. Mit einem resoluten Antritt
machte die Meisterin der Jahre 2000 und 2001 alles klar für den erneuten
Titel, der sie auf Umwege nun doch nach München führen wird. Denn
auch sie ist bislang der hohen Normvorgabe nachgelaufen, dank der Meisterschaft
ist nun der Weg bereitet für einen Start im Münchener Olympiastadion.
Der erste Verlierer ist in der Tat Kristina da Fonseca-Wollheim, die bereits im
Vorlauf im Alleingang eine 4:13,09 vorlegte, im Endlauf alles für einen
EM-Start riskierte und mit wertlosen 4:13,23 zwar Meisterschaftssilber gewann,
aber letztlich mit leeren Händen dasteht. „Es ist schade, ich musste
alles oder nichts gehen!“ Enttäuschung pur bei der Berlinerin im
Trikot der Frankfurter Eintracht. Ansonsten Enttäuschung pur auf einer
Distanz, die einstmals zu den Stärken im DLV zählte. Dreizehn bzw.
zehn Sekunden hinter den beiden Erstplatzierten kamen mit Sylvia Thier (unter
ihrem Mädchennamen Kühemund mehrfache Titelträgerin) der
erfreulich starken Marathonläuferin Ulrike Maisch die Verfolgerinnen ins
Ziel! Wer soll hier in Zukunkft die gähnende Leere ausfüllen. Zum
Glück stehen im Jamaika-Aufgebot zur U 23-WM mit Katharina Splinter und
Antje Möldner zwei Perspektiven für die mittelfristige Zukunft.
5000 m/ 3000 m Hindernis der Frauen: Sabrina Mockenhaupt und Melanie
Schulz alleine auf weiter Flur!
Alleingänge sind in der Regel langweilig – und selten schnell.
Beides trifft jedoch nicht auf die Entscheidungen der Frauen über 5000 m
und 3000 m Hindernis zu. Die Konkurrenz weit zurück spulten die beiden
Frontfrauen der neuen Läufer-Generation ihren Part herunter. Die eine
(Sabrina Mockenhaupt), um mit gewiss nicht erstklassigen 15:46,92, aber
mindestens dreißig Sekunden Vorsprung vor Susanne Ritter, Birte Bultmann
und wiederum Ulrike Maisch letzte Zweifel an ihrer EM-Tauglichkeit zu
verwischen. Die andere (Melanie Schulz), um mit 43 (!) Sekunden nicht nur
Hindernismeisterin zu werden, sondern auch ihren gerade erst wenige Wochen
alten deutschen Rekord um zehn Sekunden auf 9:38.31 zu verbessern. „In
dieser Strecke steckt noch viel drin“ ist sich Melanie Schulz sicher, die
gerne in München als Nummer drei weltweit auch auf dieser Strecke
gestartet wäre, doch im Gegensatz zum Europacup-Finale fehlt in
München diese junge Strecke noch im Meisterschaftsprogramm. Dafür
wird die 23jährige über 5000 m im Verbund mit Sabrina Mockenhaupt
starten, zwei Teenager auf Erfahrungstrip mit klasse Aussichten auf die
Zukunft!
Wilfried Raatz