Eingebettet innerhalb eines Symposiums am Deutschen Olympischen Institut
(DOI) unter dem Titel „Friedenserziehung durch Sport: Utopie oder
pädagogische Option?" am 10./11. Januar 2003 in Berlin, Am Kleinen
Wannsee, lud der neue Präsident des Nationalen Olympischen Komitees Dr.
Klaus Steinbach zum Neujahrsempfang. Anwesend waren die Vertreter des deutschen
Sports und ihrer Spitzenverbände, Bundesminister Otto Schily, Politiker
der im Bundestag vertretenen Parteien, viele deutsche Olympiasieger, die
Bürgermeister der deutschen Städte, die sich um die Ausrichtung der
Olympischen Spiele 2012 in Deutschland bewerben, sowie die Medien.
Den Festvortrag hielt Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber. Bischof Huber ist
bekennender Jogger. Wir danken für die Überlassung des
Vortrags.
DER SPORT – EIN VEHIKEL CHRISTLICHER WERTE?
JAHRESEMPFANG DES NATIONALEN OLYMPISCHEN KOMITEES,
BERLIN 10.01.2003
1.
Ein olympiadefreies Jahr ist eines, in dem die nächste Olympiade
vorbereitet wird – seien es die Sommer- oder die Winterspiele. Weichen
werden gestellt; und für manche Weichen mag es schon zu spät sein. An
der Spitze des NOK hat sich ein Wechsel vollzogen; in den Kreis derer, die dem
neuen Präsidenten von Herzen eine gute Hand und Segen in seinem Tun
wünschen, reihe ich mich gern ein. Ich freue mich sehr über die
Gelegenheit, die sich heute für diesen Glückwunsch bietet.
Dass sich das Symposion über „Friedenserziehung durch
Sport“ mit diesem Neujahrsempfang verbindet, halte ich für eine
besonders glückliche Fügung. So ergibt sich auch eine doppelte
Herausforderung. Die Frage nach der Aktualität der olympischen Idee
verbindet sich mit der Suche nach dem Friedensbeitrag des Sports. Wie dringend
und wie schwierig die Verantwortung für den Frieden ist, steht uns in
diesen Tagen einer scheinbar unaufhaltsam näher rückenden
Kriegsgefahr sehr deutlich vor Augen. Eine überschwängliche Rede
über die Möglichkeiten von Friedenserziehung wird in dieser Situation
niemandem über die Lippen kommen. Aber kein Hinweis darauf, dass die
Entscheidungen an anderer Stelle getroffen werden, entbindet uns von der Frage,
was für den Frieden geschehen kann und wo der jeweils eigene Beitrag
liegt.
Selbst wer in bestimmten Konfliktsituationen den Gebrauch rechtlich
verantworteter Gewalt als äußerstes Mittel nicht ausschließt,
wird in der Pflege von Räumen der Gewaltfreiheit eine wichtige
Voraussetzung dafür sehen, dass Gewalt ein äußerstes Mittel
bleibt. Konsequenter, als das bisweilen geschieht, sehe ich deshalb eine erste
ethische Verantwortung des Sports darin, dass er sich als ein Raum der
Gewaltfreiheit versteht und bewährt. Gewaltsamkeit im sportlichen
Wettkampf gefährdet nicht nur die Gesundheit des Gegners; und
Aggressivität zwischen gegnerischen Sportfans gefährdet nicht nur die
einzelne Sportveranstaltung. Beides tastet vielmehr den Sport als einen Raum
der Gewaltfreiheit und damit seine Friedensfunktion selbst an. Ich halte es
nicht für möglich, über die Friedlichkeit des Sports zu
sprechen, ohne die Frage zu stellen, wie der Sport selbst ein Raum des Friedens
sein und bleiben kann.
2.
Dass der Sport ein Raum des Friedens sei, ist aber eine der wichtigen
Antriebskräfte des modernen Sports, insbesondere der modernen olympischen
Bewegung. Ommo Gruppe hat die olympische Idee auf die einfache Formel gebracht,
„dass im olympisch verstandenen Sport Erziehung zu sportlichem
Können in ausdrücklicher Verbindung mit Erziehung zu Fairness und
Friedlichkeit gesehen werden soll und dass dies für alle, die in diesem
Sinn Sport treiben, gilt. Olympisch zielt dabei auf eine Form von
Ganzheitlichkeit, die Streben nach sportlichem Können und Fairness im
Handeln vereint.“ Diese Idee ist keineswegs auf sportliche
Höchstleistungen beschränkt, sondern kann sich auf allen sportlichen
Leistungsstufen verwirklichen.
Ideen freilich dürfen nicht mit der Realität verwechselt werden.
Wie nah oder fern sich Idee und Wirklichkeit stehen, wird im Blick auf die
olympische Idee im nächsten Jahr ganz gewiss besonders intensiv
diskutiert, wenn olympische Sommerspiele in dem Land stattfinden, auf das die
olympische Idee sich beruft. Die Olympischen Sommerspiele 2004 in Athen werden
viele zu einer besonders kritischen Nachfrage danach veranlassen, was von der
olympischen Idee geblieben ist. Bestimmt die Verbindung von sportlichem
Können mit Fairness und Friedlichkeit noch die olympische Wirklichkeit?
Prägt sie noch die Wirklichkeit des Sports? Hat ein ethisches Nachdenken
über den Sport im Zeitalter seiner Kommerzialisierung noch Sinn? Und
vermag die christliche Ethik dazu etwas beizutragen? An diese Frage haben
diejenigen vermutlich gedacht, die mir und Ihnen heute das Thema zugedacht und
zugemutet haben: „Der Sport – ein Vehikel christlicher
Werte?“
3.
Dieses Thema hat freilich etwas Verwirrendes an sich. Was ist „der
Sport“? Und was sind „christliche Werte“. Diejenigen hier im
Kreis, die sich im Sport auskennen, werden alsbald auf die Vieldeutigkeit des
Begriffs, auf den Wandel der Sportkultur, auf den Übergang vom alten
Sportsgeist zur modernen Sportlichkeit hinweisen. Und diejenigen, die etwas vom
Christentum verstehen, werden sich nicht lumpen lassen und an anschaulichen
Beispielen den Streit darüber illustrieren, worin denn die
„christlichen Werte“ bestehen – in der Nächstenliebe
etwa oder gerade in der Hochschätzung des Individuums in seiner
Einmaligkeit? Ja manche werden diesen Streit überbieten und sich zu der
Erklärung anschicken, der Sinn des christlichen Glaubens bestehe vorrangig
überhaupt nicht in der Vermittlung von „Werten“, sondern in
einer „wert-losen Wahrheit“, in der dem Menschen in seiner
Gottesferne die Güte Gottes nahegebracht wird, ohne jede Bedingung, allein
aus Gnade. Andere werden fragen, wieso denn in einer solchen Überlegung
„christliche Werte“ besonders ausgezeichnet oder gar mit Vorrang
ausgezeichnet werden sollen? Welchen Anspruch auf öffentliches Gehör
können sie denn in einer pluralistischen Gesellschaft und erst recht in
einer pluralistischen Weltgesellschaft noch erheben?
Auf den beiden Seiten unseres Themas warten also manche Klippen auf uns. Wie
aber steht es mit der Verbindung? Der Sport als „Vehikel“
christlicher Werte? Ist das nun nicht eine allzu kühne Verknüpfung?
Das Wort „Vehikel“ – Fahrzeug, Transportgerät –
legt den Eindruck nahe, der Sport transportiere sozusagen automatisch
christliche Werte – ob er das nun ausdrücklich will oder nicht. Aber
mit Fahrzeugen oder Lasttieren ist das eben eine eigene Sache. Jesus
erzählt nach dem Bericht des Lukasevangeliums das Gleichnis vom
barmherzigen Samariter. Eine Schlüsselrolle in diesem Gleichnis spielt das
Reittier des reisenden Samaritaners. Auf dieses Tier wird der Mann, der unter
die Räuber gefallen und von ihnen halb tot geschlagen worden war, gehoben;
so bringt der barmherzige Samariter ihn zum nächstgelegenen Gasthaus. Das
Reittier des Samariters wird so zu einem Vehikel der Nächstenliebe. Aber
von einem Automatismus kann keine Rede sein; das Tier hätte auch zu ganz
anderen Zwecken verwendet werden können. Martin Luther vergleicht in einem
kühnen Bild sogar den Menschen selbst mit einem Reittier; alles kommt
darauf an, von wem er geritten wird: von Gott oder vom Teufel. In seiner
Radikalität behauptet der Reformator, dieses Bild vom Menschen und seinem
Geschick sei wesentlich realistischer als die Vorstellung vom „freien
Willen“.
Das ist eine unbeabsichtigte und doch nicht fern liegende Radikalisierung
des Themas: Wofür ist der Sport der Gegenwart ein Vehikel, ein Reittier?
Für Gott oder den Teufel, für Spiel oder Kommerz, für den Kult
des Körpers oder die Kultur des Friedens? Die Schwierigkeit mit solchen
radikalen Fragen besteht in aller Regel darin, dass die Dinge sich in der
Wirklichkeit mischen. Der Sport weist vielerlei Schattierungen auf: von der
Freude an der Leistung bis zum Doping, von der respektablen, ja dankenswerten
wirtschaftlichen Förderung des Breiten- wie des Leistungssports bis hin zu
einer skrupellosen Kommerzialisierung, von Transparenz bis Korruption. Die
Frage kann also nicht heißen, ob sich christliche Werte automatisch in
den Sport übersetzen. Sie heißt eher, ob christliche Ethik und
christliches Engagement einen Beitrag zum besseren Verstehen und zur
verantwortlicheren Gestaltung des Sports leisten können. So gesehen
verbindet sich diese Frage auch nicht mit der Vorstellung von einer exklusiven
Verbindung zwischen christlichem Glauben und Sport.
4.
Das wäre auch reichlich vermessen. Denn zunächst liegt der Einwand
nahe, dass der christliche Glaube zum Sport von Hause aus gar kein positives
Verhältnis hat. Der Verweis auf eine christliche Tradition der
Leibfeindlichkeit ist schnell zur Stelle, wenn die Rede auf das Verhältnis
zwischen christlichem Glauben und Sport kommt. Der Sport, beispielsweise auch
in Gestalt der olympischen Idee, wird deshalb in der Regel auch auf ganz andere
Quellen zurückgeführt, auf die griechische Vorstellung von der
Kalokagathie etwa, der Einheit zwischen Schönem und Gutem. Der Sport wird
damit gedeutet als der Inbegriff des Zusammentreffens von Ethik und
Ästhetik, ja als Religion eigener Art.
Coubertin, der Vater der modernen olympischen Idee, sah die Brücke
zwischen dem alten und dem neuen Olympismus ausdrücklich darin,
„eine Religion zu sein“. Avery Brundage hat das nachdrücklich
übernommen. Von glühenden Verfechtern des „Olympismus“
wird dieser bis heute immer wieder als eine eigenständige
„Philosophie“ oder gar „Religion“ mit missionarischem
Anspruch und Auftrag betrachtet. Auch noch die in Tokyo 1990 verabschiedete
Olympische Charta spricht vom „Olympismus“ als einer
„philosophy of life, exalting and combining in a balanced whole the
qualities of body, mind and will.“
Wer freilich den Olympismus als Religion betrachtet, kann der Frage nicht
ausweichen, wer seine Götter sind. Die Phase, in der diese Götter in
Vaterland, Rasse, Ruhm und Ehre gesehen wurden, steht uns noch deutlich vor
Augen. Die Frage, ob sie nun in der wirtschaftlichen Vermarktbarkeit gesehen
werden, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Väter der modernen
olympischen Idee meinten freilich zumeist ein unbestimmteres religiöses
Empfinden, das sich mit dem wiederkehrenden Ritus und der agonalen Struktur der
sportlichen Wettkämpfe verbinden sollte.
Freilich gibt es auch eine andere Position, die diese Heraushebung des
Olympismus aus der allgemeinen Sportbewegung gerade vermeiden möchte; sie
bindet ihn stattdessen zurück an eine Deutung des Sports im ganzen als
eines Kulturphänomens. In ihm verknüpft sich die Begegnung mit dem
eigenen Körper mit gemeinschaftsstiftenden Erfahrungen und einem
völkerverbindenden Potential, das in den Dienst des Friedens treten kann.
Wettkämpfe im Bereich des Hochleistungssports heben in dieser Betrachtung
zwar das Leistungsprinzip als ein wichtiges Moment des Sports besonders hervor.
Aber bis in den Hochleistungssport hinein ist das Leistungsprinzip eingebunden
in die besonderen Möglichkeiten der Persönlichkeitsbildung und der
Gemeinschaftserfahrung, die der Sport bietet.
In einer solchen Betrachtungsweise soll einer Isolierung des Leistungssports
gewehrt werden. Auch die spektakulären Formen des Leistungssports, die im
Medienzeitalter herausgehobenes Interesse finden, sind Formen des Sports. Aber
was ist Sport? Ich selber erkläre mir dieses Phänomen, indem ich an
ihm drei Dimensionen unterscheide, die sich auch sonst im menschlichen Leben
finden: die naturale, die personale und die soziale Dimension.
Sport hat eine naturale Dimension. Er ist eine Handlungsform, in welcher
Menschen von den natürlichen Bedingungen des eigenen Lebens, der eigenen
Körperlichkeit Gebrauch machen. Er vollzieht sich in aller Regel als
Bewegungshandeln in Raum und Zeit; in diesem Bewegungshandeln verbindet sich
die Natur des Menschen mit der ihn umgebenden Natur. In Gesundheit und
körperlicher Unversehrtheit hat dieses Bewegungshandeln einen wichtigen
Maßstab und ein wichtiges Ziel.
Sport hat eine personale Dimension. Er dient der Entfaltung der
persönlichen Würde; er ist Ausdruck menschlicher Kreativität und
Gestaltungskraft. Im Sport begegnet der Mensch sich selbst in der Einheit von
Körper, Seele und Geist.
Sport hat schließlich eine soziale Dimension. Im Sport begegnen
Menschen einander. Sport ist eine Form menschlicher Kooperation. Das
Zusammenspiel ist für ihn ebenso ursprünglich wie der Wettkampf. Er
ist das Urbild einer Sozialität, in der Kooperation und Konkurrenz keine
Alternative bilden, sondern unlöslich miteinander verschwistert sind. Im
Sport erfahren Menschen, dass sie aufeinander angewiesen sind und sich
wechselseitig stärken, dass sie einander herausfordern und miteinander
wetteifern können.
5.
In diesen drei Dimensionen ist Sport nicht Religion, aber er ist offen für
die religiöse Dimension, für den Gottesbezug menschlichen Lebens. Das
gilt gerade auch für die naturale, auf die eigene Körperlichkeit
bezogene Dimension des Sports. Denn es stimmt gar nicht, dass Leibvergessenheit
oder gar Leibfeindlichkeit das bestimmende Motiv für das Verhältnis
des christlichen Glaubens zur eigenen Körperlichkeit wäre. Dietrich
Kurz hat vielmehr ganz zu Recht drei wichtige Hinweise hervorgehoben, die der
christliche Glaube dafür gibt, wie das Verhältnis zum eigenen
Körper verstanden, gestaltet und geordnet werden kann. Unser Körper
als Schöpfungsgabe, die Endlichkeit unseres leiblichen Lebens und unsere
Verbundenheit mit anderen in unserem Körpersein – das sind die drei
Dimensionen, die er hervorhebt.
Unter ihnen steht die Einsicht vornean, dass für den christlichen
Glauben der eigene Körper als von Gott gegeben, als Teil von Gottes guter
Schöpfung verstanden wird. „Gott sah an alles, was er gemacht hatte,
und siehe, es war sehr gut“ (1. Mose 1,31). Dass Gott seine
Schöpfung gutheißt, ist die Grundlage des Segens, mit dem er sie
begleitet. Denn Segnen heißt ja nichts anderes als gut-heißen,
gut-sprechen, durch die göttliche Zusage zum Guten wenden. Die
griechischen und lateinischen Wörter für Segen – benedicere und
eulogein – heben das auch sprachlich hervor.
Als uns von Gott anvertraute Gabe können wir unseren Körper
genießen, feiern, müssen ihn aber auch bewahren und pflegen. Mit
starken Worten unterstreicht der Apostel Paulus das, den man in besonderer
Weise als einen Anwalt der Leibfeindlichkeit zu charakterisieren pflegt.
„Wisst ihr nicht – so heißt es bei ihm - , dass euer Leib ein
Tempel des heiligen Gottes ist?“ (1. Korinther 6,19). Den Leib als Tempel
Gottes zu bezeichnen, ist ein kräftiges Bild; aber zur Vergötzung des
Körpers gibt dieses Bild keinen Anlass. Vielmehr ist zwischen beidem
konsequent zu unterscheiden. Der Sinn unseres Lebens zeigt sich auch in
körperlichen Vollzügen, aber er entstammt nicht unserem Körper.
Was unser Leben wertvoll macht, zeigt sich auch an unserem Körper und an
dem, was wir mit ihm tun; aber der Wert unseres Lebens entstammt nicht unserem
Körper. Das ist der Sinn der radikalen Kritik des „Fleisches“,
die in der christlichen Tradition ebenfalls auf den Apostel Paulus
zurückgeht: „So sind wir nun nicht dem Fleisch schuldig, dass wir
nach dem Fleisch leben“ (Römer 8,12).
Die Unterscheidung zwischen der Hochschätzung des Körpers als
Tempel Gottes und einem Körperkult, in dem der Körper selbst zum
Götzen gemacht wird, ist in der christlichen Tradition tief verankert.
Diese Unterscheidung gewinnt heute eine besondere Aktualität. Man muss
nicht an die Exzesse im Verhältnis zum eigenen Körper denken, die
augenblicklich in den hybriden Plänen zu reproduktivem Klonen und in den
weltanschaulichen Vorstellungen, mit denen solche Pläne gerechtfertigt
werden, zum Ausdruck kommt. Und doch kann man in dieser Diskussion ein
Verhältnis zum menschlichen Körper und seiner genetischen Ausstattung
entdecken, die von der Vorstellung geprägt ist, dass der Mensch sich aus
eigenen Kräften zu „verewigen“ vermag. Verweigerung
gegenüber der eigenen Endlichkeit erweist sich als ein wichtiges Motiv
auch in manchen Formen eines übertriebenen Körperkults. Auch im
Verhältnis zum eigenen Körper kann es furchtbar sein, wenn die
Menschen Gott spielen.
Wir wissen heute mehr über unseren Körper als frühere
Generationen; wir haben mehr Möglichkeiten, auf ihn Einfluss zu nehmen.
Doch je weiter Wissen und technische Möglichkeiten reichen, desto
wichtiger ist es, elementare Unterscheidungen im Bewusstsein zu halten. Zu
ihnen gehört die Unterscheidung zwischen dem, was für Menschen
machbar ist und was der Machbarkeit entzogen bleibt. Im Verhältnis zum
eigenen Körper begegnet diese Erfahrung besonders intensiv. Menschliches
Leben entsteht und vergeht; Anfang und Ende des eigenen Lebens liegen nicht in
unserer Hand. Sport kann nicht nur die wichtige Erfahrung vermitteln, dass wir
mehr zu meistern vermögen, als wir zunächst dachten. Er vermittelt
nicht nur die Erfahrung, dass wir Grenzen hinausschieben können. Er
verhilft auch dazu, Grenzen zu erfahren und anzuerkennen. „Alles Fleisch
ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde“
heißt es beim Propheten Jesaja (Jesaja 40,6).
Den Körper als Gottes Tempel zu achten ist etwas anderes als den
eigenen Körper als Gott zu verherrlichen. Das ist besonders wichtig im
Verhältnis zu anderen. Die Verherrlichung des gesunden Körpers
nämlich schlägt unweigerlich in die Verachtung des kranken
Körpers um. Wenn sich das agonale Prinzip der olympischen Idee
verselbständigt, dann wird die Freude über den Erfolg zu einem Kult
der Siegertypen. Das olympische Bild vom Menschen braucht deshalb die Korrektur
durch das jesuanische Bild vom Menschen. Die Verletzlichkeit des menschlichen
Lebens, die Würde des Leidenden, die Kraft, die sich nur in der
Schwachheit zeigt: wenn all das nicht mehr als zum Menschsein gehörig
wahrgenommen wird, dann leidet die Menschlichkeit Schaden.
Was wir von der menschlichen Würde halten, zeigt sich in besonderen
Maß daran, wie wir mit der Würde derer umgehen, die unseren Idealen
von Schönheit, Fitness und Erfolg nicht entsprechen. Nicht nur Fairness,
sondern Compassion ist ein Wert, der auch im Sport wieder mehr Raum
braucht.
Wenn von „christlichen Werten“ überhaupt die Rede sein
soll, muss dieser Wert vornean stehen. Die Nächstenliebe, von der das Neue
Testament spricht, und die Verantwortung für den Nächsten, zu der es
einlädt, orientieren sich in besonderer Weise am Leid des Mitmenschen.
Jesus selbst wird als einer geschildert, der sich den Leidenden zuwendet und
sie aufrichtet. Eine seiner kurzen Erzählungen, die Weltgeschichte gemacht
haben – man braucht kaum eineinhalb Minuten, um diese Geschichte vom
barmherzigen Samariter ungekürzt vorzulesen – , stellt denen, die in
einem vermeintlich höheren Interesse am leidenden Mitmenschen
vorübergehen, den wenig geachteten Fremden gegenüber, der sich vom
Leid seines Mitmenschen aufhalten lässt. Leid zur Sprache kommen zu
lassen, vermeidbaren Schmerz zu vermeiden, Compassion nicht zu verweigern und
die Verantwortung für die Integrität des andern nicht zu
versäumen: das ist eine Dimension der Mitmenschlichkeit, für die der
christliche Glaube steht. Er hat diese Dimension in seiner Geschichte selbst
oft genug verdunkelt. Christliche Kirchen haben bisweilen eher Menschen ihre
Schuld vorgehalten als ihr Leid mit ihnen getragen; sie haben mehr von der
Sünde geredet als von der Compassion – jenem Grundimpuls der
Mitmenschlichkeit, der in seiner deutschen Übersetzung als
„Mitleid“ allenfalls noch lächelndes Achselzucken
auslöst. Dabei kann man sogar noch bei Fernsehübertragungen von
Sportereignissen beobachten, wie es Menschen anrührt, wenn wirkliche
Compassion, echte Fürsorge für einen gefährdeten oder verletzten
Gegner, den Geist des Wettkampfs und des Siegenwollens in die Schranken
weist.
6.
Erst diese Compassion nämlich, eine Leidempfindlichkeit, die sich von
Wehleidigkeit gründlich unterscheidet, schafft eine Basis dafür, dass
sich in uns und um uns eine Kultur der Achtung entwickeln kann. Wo nur
derjenige Anerkennung genießt, der sich durch besondere Leistungen oder
besonderes Glück hervortut, steht es um eine solche Kultur der Achtung
nämlich schlecht. Solange wird nämlich die Achtung der einen mit der
Geringschätzung der anderen erkauft. Auch im Sportbetrieb ist das nicht
unbekannt. Die mediale Vermarktung des Sports trägt dazu erheblich bei.
Ich will nicht missverstanden werden: Leistung verdient Anerkennung; und der
Stolz über Gelungenes braucht seinen Raum, die Freude über den Sieg
eingeschlossen. Doch der Sieger, der vergisst, wie ihm als Verlierer zu Mute
war, verfällt dem Hochmut. Der Leistungsfähige, der für die
kontingenten Bedingungen der eigenen Leistungsfähigkeit blind ist, erweist
sich genauso als ein Tor wie der reiche Kornbauer, von dem Jesus in einer
anderen seiner kleinen Erzählungen sagt, mit allem seinem Reichtum habe er
seinem Leben keinen einzigen Tag hinzufügen können.
In aller Regel betrachtet man das Fairness-Prinzip als das grundlegende
Prinzip, durch das christliche Werte in den Sport Eingang gefunden haben. Meine
Überlegung zielt darauf, diesen Beitrag tiefer anzusetzen. Nicht erst in
der Fairness, sondern in der Compassion vermittelt der christliche Glaube ein
Verhältnis zum andern, das den sportlichen Wettkampf davor bewahrt, in
eine Missachtung des Gegners umzuschlagen. Den Zusammenklang von Wettkampf und
Compassion kann der Sport auf einprägsame Weise darstellen und durch den
herausgehobenen Stellenwert, der ihm in den Medien zukommt, den Menschen nahe
bringen. Darin läge auch ein höchst wirksamer Beitrag des Sports zum
Frieden.
7.
Damit schließt sich der Kreis. Die Frage nach „christlichen
Werten“ allein, so scheint es, genügt nicht. Friedensfähig ist
gerade ein Sport, der sich nicht selbst als Religion versteht, der den
menschlichen Körper als „Tempel Gottes“ achtet, ohne ihn
selbst zu vergötzen, und der bei allem Willen zum Sieg die Compassion mit
den Leidenden, den Unterlegenen, den am Rande Stehenden nicht vergisst. Ein
solcher Sport kann sich tatsächlich als ein Raum der Gewaltfreiheit
bewähren und so seinen Beitrag zum Frieden leisten.