Dass der 26 Jahre alte Amerikaner Thomas J. Hicks vom Verein Christlicher
Junger Männer in St. Louis 1904 nicht nur den olympischen Marathon
überlebte, sondern ihn auch noch gewann, gehört zu den dramatischsten
Geschichten der Sporthistorie. Im Frühtau der Moderne hatten sie es als
schillernde Blickfänger allerdings leichter als heute, da der
Wettkampfbetrieb in geordnete Bahnen übergegangen ist. Schon die Zeit des
Siegers, 3:26:53 Stunden für 25 Meilen oder rund 40 Kilometer, kann nur
noch eine blasse Ahnung von den durchlittenen Abgründen tiefster
Erschöpfung wiedergeben. Zuletzt war Hicks der Ohnmacht nahe, vielleicht
auch dem Sterben. Wir übertreiben nicht. "Es wäre unangemessen,
in den Ereignissen allein nach Kauzigem, Verrücktem - oder sogar
Lächerlichem zu suchen. Die handelnden Personen sind heute für die
meisten ihrer Fehler entschuldigt. Denn sie wussten nicht, was sie taten.
Selbst als sie dopten, taten sie es im guten Glauben. Zwar heißt es im
ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sei den Dauerläufern bei einem
neugierig gewordenen Publikum schon ein hübscher Heldenstatus zugewachsen.
Aber die Lehre des langen Laufes steckte noch in den Kinderschuhen." Hicks
Trainer hielt die Ereignisse um den olympischen Marathon amgnadenlos
heißen 30. August 1904 in einem spannenden Aufsatz fest. Daraus ragt nun
also ein Satz mit einem Gedanken heraus, der wie ein verderblicher
Irrläufer über die Zeilen rennt.
Zitat: “Der Marathonlauf zeigte vom medizinischen Standpunkt deutlich,
dass Drogen für die Athleten bei einem Straßenlauf von großem
Nutzen sind." (zitiert aus der “Geschichte der Olympischen
Leichtathletik - 1. Band", mit freundlicher Genehmigung desBerliner Autors
Ekkehard zur Megede). Es war schon nach 24 Kilometern, als Hicks
zusammenzubrechen drohte. “Er bat um ein Glas Wasser, aber ich
verweigerte es ihm. Ich gestattete lediglich, den Mund mit destilliertem Wasser
auszuspülen." Die einzigen Wohltaten, die er dadurch gewann, konnten
nur ein kurzes Verweilen und die Ruhe gewesen sein. Danach trottete der
Läufer weiter. Bei Kilometer 27 "sah ich mich gezwungen, ihm ein
tausendstel Gramm Strychnin mit einem Eiweiß einzuflößen.
Obwohl wir auch französischen Cognac bei uns hatten, verzichteten wir
darauf, ihm noch weitere stimulierende Mittel zu geben". In Wahrheit
gipfelte die Wohltat allein darin, den Sportler nicht augenblicklich vom Leben
zum Tod befördert zu haben. "Ein paar Minuten später sah sich
der in bester Absicht misshandelte Schmerzensmann ein zweites Mal auf seine
klapprigen Beine gestellt, und danach balancierte er mit glasigen Augen, jedoch
geleitet von einem fürsorglichen Schutzengel, wieder an seiner
völligen Austrocknung entlang. Währenddessen holten ihn die Betreuer
aus seiner bleiern gewordenen Müdigkeit mit lautem Schreien heraus und
trieben ihn bangen Herzens seiner sportlichen Unsterblichkeit entgegen.
“Als Hicks die 20-Meilen-Marke passierte," Kilometer 32,
“war sein Gesicht aschfahl, so dass wir ihm noch einmal ein tausendstel
Gramm Strychnin, zwei Eier und einen Schluck Brandy gaben. Außerdem
rieben wir den ganzen Körper mit warmem Wasser ab, das wir in einem Boiler
in unserem Automobil hatten." Nach diesem rettenden Bad erholte sich Hicks
ausreichend genug, damit er wenigstens sein bescheidenstes Ziel ansteuern
konnte: die Ankunft in Unversehrtheit. Immerhin war der antike Bote
Phaidippides, der 490 vor Christus den Sieg der Athener über die Perser
auf dem Marktplatz kund gab, tot zusammen gesunken. Das ist zwar eine Legende,
in Szene gesetzt von dem römischen Geschichtsschreiber Plutarch. Aber
jeder Leser erkannte sofort den wahren Kern in der Anekdote. Die Menschen
waren, acht Jahre nach der Wiedereinführung der Olympischen Spiele in
Athen 1896, immer noch auf alles gefasst.Auf den letzten drei Kilometern lief
der Führende, allein diese herausgehobene Platzierung rechtfertigte die
aufgebotene Hektik hinreichend, “nur noch mechanisch – wie eine gut
geölte Maschine. SeineAugen verloren jeden Glanz, das Gesicht war
blutleer, die Arme hingen schlaff herab, und Hicks vermochte kaum noch die
Beine vom Boden zu heben, die Knie wirkten völlig steif. Er war bei
Bewusstsein, doch plagten ihnHalluzinationen. So wurde die letzte Meile zu
einer einzigen Qual. Nachdem er noch zwei Eier zu sich genommen hatte, erneut
gebadet worden war und einen zusätzlichen Schluck Brandy erhalten hatte,
ging er mühsam die letzten beiden Hügel vor dem Ziel hinauf und
schaffte es."
Im Angesicht der sich überstürzenden Ereignisse waren drei und
eine halbe Stunde nicht einmal eine zu lange Zeit, und niemand hielt es mehr
für wichtig, auch das hinter dem Ersten abrollende Geschehen zu
erzählen. Es musste ja einige gute Gründe haben, weshalb die beiden
Amerikaner Albert Corey 5:59 Minuten und Arthur Newton sogar 18:40 Minuten
länger brauchten.Die im Stadion “Physical Culture" versammelten
Zuschauer empfingen diese erschöpfte Kreatur am Ende ihres Kalvarienbergs
jedoch nicht mit dem erwarteten und auch gebotenen patriotischen Hurra. Sondern
es war das Mitleid, das ihren Respekt deutlich überwog. Sie klatschten
deshalb so entspannt, weil sie immer noch Fred Lorz anhimmelten. Alice, die
Frau des US-Präsidenten Theodore Roosevelt, wollte ihn gerade als den
dritten Marathon-Olympiasieger moderner Zeitrechnung beglückwünschen.
Noch ahnte niemand, dass seine körperliche Verfassung deshalb gefiel, weil
er schon nach 14 km mit einem Muskelkrampf in ein Auto gestiegen war, das er
kurz vor dem Ziel verlassen hatte, um die letzten Meter wieder zu Fuß
zurück zu legen. So wurde er der "närrische Sieger".
Später bezeugten seine Kollegen, dass er ein Witzbold war.
Im darauf folgenden April gewann Lorz dann den Boston-Marathon. Dieses 1897
eingeführte und mittlerweile in eine eherne Tradition gegossenes Ereignis
konnte mit der Bedeutung Olympias gleich gesetzt werden. Hier versuchte Hicks
übrigens viermal sein Glück, und er belegte zweimal den zweiten
Platz, einmal den sechsten und einmal gab er auf. Seine beste Zeit erzielte er
im Frühjahr 1907, mit 2:39:43 Stunden für die vierzig Kilometer.
Danach verzichtete er auf eine zweite olympische Bewerbung und überhaupt
hatte er genug. Der Platz in der Ahnengalerie war ihm jedoch schon seit 1904
gewiss, als die Olympische Spiele zum ersten Mal über den Großen
Teich nach Amerika übersetzten.
Robert Hartmann
Die Ergebnisse des olympischen Marathonlaufes von 1904
1. Thomas Hicks (USA) 3:28:53
2. Albert Corey (USA) 3:34:52
3. Arthur Newton (USA) 3:47:33
Weitere Zeiten wurden nicht gestoppt, bzw. sind nicht mehr bekannt. Die
weitere Reihenfolge (14 Läufer erreichten das Ziel):
4. Felix Caravajal (Kuba), 5. Demeter Velouis (Griechenland), 6. D.J.
Kneeland, 7. H.A. Brawley (USA), 8. S.H. Hatch (USA), 9. Lentauw
(Südafrika), 10. C.D. Zehuritis (Griechenland), 11. F.P. Devlin (USA), 12.
Yamasani (RSA), 13. John Furla (USA), 14. A. Ikonomou (Griechenland).
David E. Martin ist der Autor des Buches “The Olympic Marathon“,
dem dieser Text entnommen wurde. Das Buch ist erschienen im Verlag Human
Kinetics. Weitere Informationen im Internet unter: www.humankinetics.com