Im Herbst letzten Jahres hatten Roland (ein topfiter Läufer aus meiner
Sonntags-Lauftruppe) und ich beschlossen, den Klassiker aller Ultra-Läufe,
die "100 km von Biel" anzupacken.
Nun, acht Monate später war es soweit: Es ist Juni und in den
Alpenländern herrschen Rekordtemperaturen mit bis zu 38 Grad:
Freitag, 12. Juni
21:00 Uhr: In einer Stunde beginnt der Lauf und die "Nacht der
Nächte". Es sind immer noch 32 Grad vor der Eissporthalle im
westschweizerischen Biel. Die übrigen 2.300 Teilnehmer sehen etwas anders
aus als die Läufer bei den üblichen Stadtmarathons: Der typische
100-km-Läufer ist männlich, zwischen 40 und 55 Jahre alt, hat kein
Gramm Fett am Körper; sonnengegerbte Haut, fast alles asketische,
Dr.-Strunz-Typen. Die wenigen Frauen sind entweder hagere Terrier-Typen oder
barocke Muttis, die man eher beim Volkswandern im Harz vermuten würde.
Jeder bereitet sich nun auf seine Weise vor: meditierend, stretchend,
Horrorgeschichten verbreitend (" vor zwei Jahren hat`s dann in der Nacht
ab zwölfe geschüttet und die Strecke in ein Schlammloch
verwandelt") sich mit Vaseline einschmierend; einige Soldaten (der Lauf
ist gleichzeitig die "Militärweltmeisterschaft" über 100
km) müssen mit den Kameraden für Fotos stramm stehen. Roland und ich
legen uns bei Sonnenuntergang auf einen Fußballrasen, um etwas
kühlere Luft zu bekommen. Ich bin bereits ziemlich müde: Der Versuch
am Nachmittag zu schlafen war nämlich eindeutig gescheitert: In unserem
Gasthof im Dorf Rütli war es unerträglich heiß und an der
Badestelle am Bieler See tobten zuerst aufgeweckte kleine Eidgenossen.
Anschließend begann ein Schützenverein unmittelbar neben der
Badewiese, mit großkalibrigen Gewehren zu ballern.
21:55 Uhr: Nun gibt´s kein Zurück mehr: Wir stehen im Startblock
mit den anderen Kandidaten. Der Bürgermeister schweizert salbungsvolle
Worte ins Mikrophon und dann geht´s los. Zuerst 6 km durch Biel. Die
feucht-heiße Luft steht in den Straßen. Es herrscht
Volksfeststimmung: Livemusik und tausende Bieler, die sich "die
Verrückten" anschauen, anfeuern sowie Bier & Wein trinken.
22:35 Uhr: Wir verlassen die lärmende, hell erleuchtete Stadt. Nun
müssen wir einen giftig-steilen 200-Meter-Hügel erklimmen. Wir laufen
nun auf unbeleuchteten Wegen durch Felder und Wiesen. Die Läuferschar
zieht sich bereits weit auseinander. Der Vollmond gibt genügend Licht.
Endlich spüre ich auch eine etwas kühlere Brise.
22:55 Uhr: Bei Kilometer 10 kommen wir ins erste Dorf: Die Bewohner auch der
umliegenden Weiler sind gekommen, um den Höhepunkt des Jahres
mitzuerleben. Vor den Häusern stehen Sofas, die Straßenränder
und Vorgärten sind zu Biergärten geworden. Die Kinder dürfen
aufbleiben. Die Gasthäuser machen den Umsatz des Jahres. Die Stimmung ist
gigantisch! An eine Wand hat jemand "Ein Fuchs muss tun, was ein Fuchs tun
muss!" gesprüht. Akkordeonspieler sitzen im Dunkeln am Wegesrand und
quetschen Aufmunterndes aus ihrem Instrumenten. Ich bin euphorisch dabei.
23:45 Uhr: Bei km 18 kommt der erste Höhepunkt der "Langen
Nacht": Das schöne Städtchen Aarberg. Hier überquert man
eine alte überdachte Holzbrücke auf der einige Aarbergerinnen
jodelartige Gesänge zur Erbauung der Läufer von sich geben. Auf dem
Marktplatz kocht die Stimmung. Durch eine Phalanx von Begeisterten schwebe ich
durch den Ort. Am Ausgang von Aarberg wartet Guido, ein Freund aus Berlin, der
sich bereit erklärt hat, mein "Coach" auf dem Fahrrad zu sein.
Fast die Hälfte aller Läufer hat ab Aarberg einen "lizenzierten
Begleiter", der Verpflegung und Ersatzkleidung transportiert und den Weg
ausleuchtet.
Nun geht es 32 km durch Wälder, Wiesen und munter feiernde Dörfer
mit Namen wie "Grossatfoltern" oder "Mülchi".
Kühe und Schafe schauen mich verdutzt an und scheinen zu fragen, was die
vielen Menschen nachts auf ihrer Weide zu suchen haben. Das Ganze hat nun auch
etwas Kontemplatives: Es erinnert an eine nächtliche Prozession oder an
einen Bußgang: Man sieht vor sich die roten Rückleuchten der
Begleit-Fahrräder, die sich wie eine Perlenschnur ruhig durch die Nacht
ziehen.
03:55 Monduntergang: Nun wird es richtig dunkel. Erst gegen 5:00 Uhr
dämmert es am Horizont. Nun starten die Mücken ihre finalen Attacken
in die feucht-warmen Wäldern. Das Gelände ist viel hügeliger als
das Streckenprofil im Anmeldeprospekt ("Nur 600 Meter
Höhendifferenz") versprach.
04:11 Uhr die Verpflegungsstation bei Kilometer 59 ist erreicht. Mir ist es
kotzübel. Die von Roland gebraute isotonische Getränkemischung
verträgt sich offenbar mit meiner Magensäure nicht. Ich bin
leichenblaß und will aufgeben. Roland ist bereits seit Kilometer 50
davongezogen. Ich gehe zur Massage, lasse meine Beine durchkneten und frage
dann die Leiterin dieses Kontrollpostens, wo ich aussteigen könne und wie
ich nach Biel zurück komme. Die junge Frau war mit diesen Fragen sichtlich
überfordert. Stattdessen antwortete mir ein Fahrrad-Coach: "Der beste
Punkt auszusteigen ist bei Kilometer 100". Dies leuchtete mir ein.
"Ein Fuchs muss tun, was ein Fuchs tun muss!" Guido gab mir frische
Laufsachen aus seinem Rucksack und ich lief weiter. Ich beschloss von nun an
keine isotonischen Getränke mehr zu trinken und nur noch Cola (ein
Gebräu welches ich sonst nie anrühre), Wasser und trockene Kekse zu
mir zu nehmen. Dies hatte immerhin zur Folge, dass mein Magen nicht weiter
übersäuerte. Der mir bewußte Nachteil dabei: Ich nehme nun kaum
noch energiespendende Kohlehydrate zu mir. Nun zehre ich von meinen
Fettreserven.
Nach dieser kurzen Pause folgt der fieseste Teil der Strecke: Der
berüchtigte "Ho-Chi-Minh-Pfad". Dies ist ein zeitweise nur
wenige Zentimeter breiter Weg, der größtenteils von Wurzeln oder
Wackersteinen bedeckt ist. Hinzukommen Brennesseln in Waden- und Äste in
Augenhöhe. Das Doofe daran: Es dämmert erst zu diesem Zeitpunkt und
man sieht nicht viel. Nun geht es durch das Emmental (jaja, das mit dem
löchrigen Käse). Alle 100 Meter gibt es nun eine Tafel mit
Geschichten aus der Bibel, die für einen müden Läufer nicht
gerade aufbauend sind ("Die Babylonier zerstören den Tempel"
oder am Ende: "Christus stürzt zum zweiten Mal mit dem
Kreuze").
Bei km 65 ist die Sonne aufgegangen. Die Vögel zwitschern und die
Weidentiere wundern sich nicht mehr. Meine Konzentration beschränkt sich
nun jedoch auf die schweizerische Fauna auf der Strecke: platt gefahrene Igel,
Schnecken, Kröten und Lurche nehme ich noch wahr. Wichtig erscheinen mir
auch die Verpflegungsstationen und Guidos Wasservorräte. Die Zurufe der
Schweizer an der Strecke verstehe ich auch wegen des derben
Berner-Unterland-Slangs nicht mehr. Ich denke mir nur: "Ist wohl nett
gemeint" und trabe weiter.
8:45 Uhr: Es beginnt
wieder heiß zu werden. Mit den Beinen habe ich keinerlei Probleme.
Lediglich der Puls geht etwas zu hoch. Nun geht es steil bergab. Erholsam finde
ich das jedoch auch nicht.
Bei Kilometer 87,5 komme ich endlich in das Aartetal zurück. Nun sind
es noch 12,5 km. Ich versuche mir das klein zu reden "Andor, nur noch
fünfmal um die Krumme Lanke!". Ich bin übermüdet und kann
Lärm nicht mehr ertragen. Geräusche von Autos oder einem
vorbeifahrenden Zug erscheinen mir unerträglich. 6 Kilometer vor dem Ziel
wartet meine Freundin Hédi auf mich und begleitet mich auf der letzten
Etappe. Ich bin recht nahe an den Grenzen meiner Leistungsfähigkeit. Ich
sage halblaut: "Andor, denk an Deine Pumpe" und gehe die letzten
Meter durch die sengende Hitze.
Samstag, 10:22 Uhr: Nach 12 Stunden und 22 Minuten Ich bin im Ziel. Als 577.
der 2.300 Gestarteten. 1.200 von diesen werden aufgeben und nicht ins Ziel
kommen. Einige der "Volkswander-Muttis" sind jedoch schon dort! Der
Stadionsprecher brüllt in meine sensiblen Ohren: "Herzlich Willkommen
in Biel! Wir begrüßen Andor Poll aus Berlin. Er ist zum ersten Mal
dabei! Herzlichen Glückwunsch! Ich hoffe wir sehen Dich nächstes Jahr
wieder!" Naja, das würde ich sofort nicht garantieren. Nun
geht´s erstmal unter die Dusche. Und dann schlafen und nicht mehr Laufen!
Es dauert mindestens eine halbe Stunde bis ich realisiert habe, dass ich es nun
wirklich geschafft habe. Dann beginnt man, etwas infantil zu grinsen.
Fazit: Ich habe etwa 5,5 Kg Körpergewicht in 12 Stunden verloren,
obwohl ich 12,5 l getrunken und Einiges gegessen habe. Nun, 48 Stunden danach
mit einem langen Schlaf und einem Tag mit schweren Beinen fühle ich mich
wieder prächtig: Kein Muskelkater, keine Blasen. Auch die Strapazen sind
längst vergessen. Es bleiben nur angenehme Erinnerungen an die skurrile
"Nacht der Nächte".
Warum tut man sich das an? Ein Spruch beschreibt es wohl am treffendsten:
"Ein Fuchs muss tun, was ein Fuchs tun muss!"
Andor Poll
poll@entree-berlin.de