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Davongelaufen

In Kooperation mit RUNNER’S WORLD erscheint hier jeden Monat ein Thema aus dem aktuellen Heft

von Martin Grüning | Geschäftsführender Redakteur

Sport fördert die Anerkennung von Regeln und den Teamgeist, weshalb dem Sport ein wichtiger Erziehungsbeitrag zukommt. Ich danke Dieter Baumann für seinen Einsatz im hessischen Strafvollzug und den wertvollen Erfahrungsaustausch.“ So kann man es auch sagen. Jürgen Banzer muss es schließlich wissen, er ist immerhin der hessische Justizminister. Man kann das, was da im Oktober in Gießen in einem sehr speziellen Laufevent gipfelte, auch anders auf den Punkt bringen: „Boahh, das war geil!“ Originalton Peter*, und der muss es erst recht wissen, denn er ist einer der Gefangenen, die unter Anleitung des 5000-m-Olympiasiegers Dieter Baumann das ausdauernde Laufen über sechs Monate gelernt haben. Im Innenhof einer Justizvollzugsanstalt, auf einer öden100-Meter-Runde an einer Backsteinmauer entlang!


Eine Stunde Hofgang pro Tag

Eigentlich will hier jeder Häftling, mit dem man übers Laufen spricht, nur eines: weglaufen. „Meinetwegen auch ausdauernd“, sagt Stephan. „Denn am liebsten für immer und ewig.“ Weglaufen aus der Anstalt, in der sie hier in Gießen in der Regel für mehrere Jahre einsitzen. Eine Stunde Hofgang ist das einzige, was Ihnen an frischer Luft zusteht, ansonsten hängen sie auf den Zellen herum. „Arbeit ist leider nicht für jeden da, so bleibt der Gefängnisalltag ziemlich eintönig“, sagt Bauman. So ist seine Aktion, die er unter das Motto „Lass Deinem Körper freien Lauf“ stellte, vor allem in einer Hinsicht sehr erfolgreich: Sie sorgt für Abwechslung im Knastalltag. „Wenn ich wieder draußen bin, habe ich andere Dinge zu erledigen“, sagt Ceruk, „Laufen gehe ich wieder, wenn ich Opa bin.“  Dieter Baumann weiß, dass er hier keine Läufer fürs Leben schafft. Er fühlt sich einig mit der Anstaltspsychologin Henriette Winter, die treffend sagt: „Mit dem Sport findet man am leichtesten einen Zugang zu den Gefangenen und diese erfahren, dass sie zu einer Leistung fähig sein können, die sie sich selbst – und andere ihnen – nicht zugetraut haben. Und sie bekommen dafür auch noch Anerkennung, unter anderem von einem Olympiasieger.“ Man muss es gar nicht heroisieren, was Baumann da in Gießen auf die Beine stellte und er selbst weiß am besten, dass sein Beitrag zur „Resozialisierung“ nicht überschätzt werden sollte: „Die Jungs hatten hier und heute Erfolg, manche von ihnen den ersten nennenswerten Erfolg seit Monaten. Und außerdem haben sie in den letzten Wochen und Monaten dreimal pro Woche eine Stunde weniger auf einer tristen Zelle rumgehockt, stattdessen Abwechslung gehabt und dabei noch etwas für ihren Körper getan.“ So einfach ist das!

Und schließlich gipfelte die Aktion ja auch noch in einen absoluten Höhepunkt: den ersten deutschen Knastmarathon. Eigentlich eher einen Knast-Staffel-Marathon. Oder wie es Artur Schmidt durchs Mikrophon im Innenhof posaunt: „Eine Weltneuheit.“


Der Initiator am Mikrophon

Schmidt ist übrigens der Leiter des Offenen Vollzugs in Gießen, außerdem wahrlich nicht auf den Mund gefallen und weiß Leute zu motivieren – unter anderem auch den Olympiasieger Dieter Baumann für diese Aktion. Schmidt war früher selbst ein Läufer und ist aus der deutschen Laufszene seit Jahren nicht  wegzudenken. Jahrelang war er Organisator einer bekannten Laufveranstaltung in Herborn („Herborner Adventslauf“), jetzt ist er nahezu jedes Wochenende auf irgendeinem Laufevent als Sprecher, Ansager, Marktschreier fürs Produkt „Laufsport“  unterwegs. „Artur Schmidt ist der eigentliche Initiator dieser Aktion. Ohne ihn wäre dies alles nie zustande gekommen“, so Olympiasieger Baumann über den Justizangestellten Schmidt. „Gäbe es nur Artur Schmidts auf dieser Welt, gäbe es keine Häftlinge mehr, nur noch Läufer“, sagt einer von dessen Kollegen.


106 Runden im Innenhof

Schmidt organisierte dann auch den Knast-Staffel-Marathon, auf den Baumann über sechs Monate die Häftlinge aus Schmidts Knast vorbereitete. Jeder Häftling sollte in der Lage sein, zehn bis 13 Kilometer am Stück zu laufen, oder besser gesagt, mehr als 100 Runden um das rote Tartanspielfeld im Innenhof des Backsteingemäuers. Manchmal waren es 25 Häftlinge, die an den Trainingsläufen im Hof teilnahmen, manchmal zwölf. Einmal brachte Baumann einen kenianischen Topläufer mit, „um den schweren Jungs zu zeigen, wie leichtfüßig man laufen kann.“ Wer sich wunderte, dass es nicht mehr gab, die am Training teilnahmen, weiß nicht um die wahren Probleme der Insassen.

Vier Knast-Staffeln traten schließlich mit neun „Freundschafts“-Staffeln zum Start an. Letztere sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Lauffreunden der Initiatoren Baumann und Schmidt, die allesamt zum ersten Mal – und das auch nur für ein paar Laufrunden – im Knast „einsitzen“. Zunächst staunen sie, dann laufen sie, alle zusammen.


Der Kampf um die Pizza

Baumann peitscht seine Jungs auf der Strecke mit einer Hingabe an, dass man spürt, wie ernst es ihm mit seinem Engagement ist: „Laufen ist mein Leben und wer glaubt, dass es einen Unterschied gibt zwischen  laufenden Top-Managern und laufenden Häftlingen, der hat vom Laufen wirklich überhaupt keine Ahnung: Beide sehen in kurzen Hosen gleich aus und beide schwitzen und keuchen, wenn ich sie anfeuere“, sagt er und entschwindet auf die nächste seiner unzähligen Runden als Mitläufer, Vorläufer, Ersatzläufer.

Mehmet hat nicht konsequent genug trainiert und wird zum Wackelkandidaten seiner Staffel. Die anderen feuern ihn an, aber er hat schon nach einem Drittel der Strecke Probleme. Mit hochrotem Kopf wird er immer langsamer und langsamer. Baumann schüttelt erst den Kopf, dann taucht er neben Mehmet auf: „Wenn Du es schaffst, bestelle ich Dir eine Pizza auf die Zelle.“ Mehmet kämpft bis zum Umfallen, während Baumann einem Justizangestellten sechs Euro für die Pizza in die Hand drückt: „Er schafft’s!“ Und: Mehmet schafft’s! Vielleicht schafft Mehmet demnächst noch viel mehr…



* Alle Häftlings-Namen wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verändert.