Mit Kenenisa Bekele schreibt ein Zwanzigjähriger Cross-Geschichte.
Verblüffte im Vorjahr in Dublin der junge Äthiopier schon die
Fachwelt mit seinem Doppelerfolg auf der Kurz- und Langdistanz, so ist sein
neuerlicher Erfolg bei den 31. Cross-Weltmeisterschaften in der alten
Römerstadt Avenches in der Schweizer Region Lausanne-La Broye ohne jede
Parallele. Am Samstagnachmittag sprintete Bekele auf der 250 m langen
Zielgeraden dem zweifachen Kurzcross-Weltmeister John Kibowen und dessen
Landsmann Benjamin Limo mit spielerischer Leichtigkeit davon, tags darauf war
er auf der Langdistanz allen Zweifeln erhaben, überstand die taktischen
Spielchen der Kenianer mühelos, um seinerseits in der Schlussphase als
wahrer Champion mit einem Dreizehn-Sekunden-Vorsprung zu glänzen. Fast
hätte es ihm Worknesh Kidane gleich tun können, doch die
überragende, erst 21 Jahre alte Langstreckensiegerin scheiterte am zweiten
Veranstaltungstag an der glänzend agierenden Titelverteidigerin Edith
Masai, die bereits 35 Jahre alt ist, um eine Sekunde.
Die Juniorentitel gingen nach spannenden Sprints an den Kenianer Eliud
Kipchoge und die Äthiopierin Tirunesh Dibiba. Die beiden ostafrikanischen
Läufernationen sammelten zusammen mit den Teamwertungen jeweils sechs
Goldmedaillen, die wichtigste jedoch, wie es das kenianische
IAAF-Council-Mitglied Isaiah Kiplagat aber bestimmt formulierte, holten jedoch
die Kenianer mit dem Mannschaftssieg auf der Langdistanz. Übrigens zum
achtzehnten Male in Folge seit 1986, als im nahe gelegenen Neuchâtel der
Siegeszug der kenianischen Läufer begann.
Den Kenianern fehlt derzeit der große Einzelkönner, daran kann
auch der neuerliche Erfolg von Edith Masai nichts ändern. Patrick Ivuti,
Vizeweltmeister 1999 und Olympiavierter von Sydney, wurde zum ernsthaften
Rivalen von Kenenisa Bekele, ohne ihm auch nur wirklich gefährlich werden
zu können. Nach dem Samstagsdebakel (nur eine Goldmedaille durch Kenias
Männer auf der Kurzdistanz) blies Coach Mike Kosgei zum Sonntags-Angriff.
Doch auch das unvermindert hohe Tempo an der Spitze durch Abraham Cherono, John
Cheruiyot Korir, Sammy Kipketer oder Paul Koech konnte Bekele nicht
zermürben. Zur Überraschung aller startete der letztjährige
Junioren-Weltmeister Gebregziab Gebremariam nicht zur möglichen
Titelverteidigung, sondern sollte der letzte Wegbegleiter auf dem Siegeszug von
Kenenisa Bekele werden, dessen Mut letztlich mit Bronze belohnt werden
sollte.
Für die Nicht-Afrikaner hingen die Trauben einmal mehr sehr hoch, zumal
Europameister Sergiy Lebid nach sechs Siegen in der Cross-Saison dieses Winters
schon früh in Rückstand geriet und als 23. zur Halbdistanz ausstieg.
Wenn man den in Somalia geborenen US-Läufer Mebrahtom Keflezighi auf Rang
elf ausklammert, sorgte der Portugiese Eduardo Henriques als Sechzehnter vor
dem 10 000 m-Europameister José Martinez für die beste
Platzierung.
Das Langstreckenrennen der Frauen sollte zum Generationsduell werden, denn
die Generation der Zwanzigjährigen um Kidane, Kuma, Chemjor, Chepchumba,
Rumokol und Co stand auf dem Prüfstand gegen die
Dreißigjährigen wie Drossin oder gar gegen die Vierzigjährigen
wie de Reuck. Und es sollte zum Triumph der jungen Garde werden, die sich auf
dem leicht kupierten Terrain von Avenches eindrucksvoll in Szene setzen konnte.
Und für die 21jährige Worknesh Kidane, die im Cross-Terrain als
frühere Junioren-Weltmeisterin (1999), WM-Zweite der Kurzdistanz (2002)
und als 5000 m-Olympiasiebte in Sydney schon frühzeitig ihre Anwartschaft
auf eine Eingliederung in eine Reihe mit Tulu, Wami, Adere und Co. anmeldete
– und in überzeugender Manier triumphierte. So sehr sich die von
vielen nach dem Startverzicht von Paula Radcliffe als Favoritin angesehene
Deena Drossin auch um ein hohes Tempo bemühte, ihre schattengleich
folgende äthiopische Konkurrentin wurde sie nicht los. Mit einem satten
Antritt rund vierhundert Meter vor dem Ziel zerstörte die junge
Äthiopierin die Titelchancen der US-Läuferin, die somit wie in Dublin
Silber gewinnen konnte.
“Deena Drossins Rennen war für mich perfekt, weil sie sehr
aggressiv Tempo gelaufen ist!“ freute sich die Äthiopierin über
den Sieg. Während Worknesh Kidane ihre Zukunft (natürlich) auf der
Bahn sieht, wird Deena Drossin (wie ihr Idol Paula Radcliffe) nach
entsprechender Vorbereitung schon in zwei Wochen beim London-Marathon an der
Startlinie stehen. Ein Grund, weshalb sie sich nicht “spritzig“
genug fühlte, um der Schlussoffensive der Äthiopierin folgen zu
können. “Natürlich habe ich einige lange Läufe
eingestreut, wenngleich mein Hauptaugenmerk aber nach wie vor dem Cross
galt!“
Die Schweizer zeigten sich organisatorisch in Bestform. Das 1999 eingeweihte
Institut Equestre National Avenches, mit einem Areal von 140 ha schon nach nur
kurzer Anlaufzeit zu einem der wichtigsten Zentren des Pferdesports
Mitteleuropas geworden, erwies sich als idealer Crossparcours mit
ausgezeichneter Infrastruktur. Fast 20 000 Zuschauer an beiden WM-Tagen sorgten
für die rechte stimmungsvolle Kulisse, auch wenn die
Demonstrationsflüge der Schweizer Luftwaffe im Rahmen einer kurzen
Eröffnungszeremonie angesichts der Kriegsereignisse im Mittleren Osten
fehl am Platze waren. Während die US-Läufer mit einer
“Friedensschleife“ auftraten, Japan, Somalia und Israel wegen des
Irakkrieges fehlten, wurde in Avanches einmal mehr eine DLV-Mannschaft
vermisst. “Wenn man als Deutscher in internationalen Gremien arbeitet,
fällt es schwer, die Abstinenz deutscher Läufer zu
erklären“, sagte Prof. Helmut Digel, der in seiner Funktion als
IAAF-Vizepräsident und Council-Mitglied in der Schweiz weilte. “Das
ist keine freundliche Geste unseres Nachbarlandes.....“, formulierte ein
Schweizer Journalist die Abstinenz einer deutschen Mannschaft schärfer.
Die Schweizer Läufer zeigten sich hingegen mit teilweise beachtlichem
Erfolg auf heimischem Terrain. So wurde Hindernisspezialist Christian Belz als
Achtzehnter der Kurzdistanz sogar bester Europäer, wenn man die drei
Nordafrikaner im französischen bzw. spanischen Dress einmal ausklammert,
das Männerteam zudem Siebter in diesem Wettbewerb.
Wilfried Raatz
Der Gebrselassie-Nachfolger steht schon parat:
Cross-Doppelweltmeister Kenenisa Bekele ist ein Ausnahmeläufer –
aber auch verletzungsanfällig
Ein junger Mann namens Kenenisa Bekele wandelt auf den Spuren von Haile
Gebrselassie. Auch wenn viele ihn schon nach dem in der 100jährigen
Geschichte der internationalen Cross-Country-Laufes einzigartigen Double bei
den beiden aufeinander folgenden Weltmeisterschaften in Dublin und Avenches auf
eine Stufe mit seinem großen Landsmann stellen möchten, der gerade
einmal 20jährige wehrt bescheiden ab: “Nein, Haile hat mir eines
voraus, er ist Olympiasieger!“ Es ist schon kurios: Haile Gebrselassie
wurde gerade erst vor zwei Wochen in einem begeisternden Tempolauf in
Birmingham 3000 m-Hallen-Weltmeister und darf getrost für weitere
Großtaten auf der Bahn und der Straße rüsten, da sprechen
viele Fachleute bereits von seinem Nachfolger. Gewiß das Double des
Kenenisa Bekele ist bislang einzigartig, allerdings gibt es die
Möglichkeit mit Starts auf der Kurz- und Langdistanz erst seit dem
Welt-Championat 1998 in Marrakesch. Mit fünf Goldmedaillen, darunter
allerdings eine bei den Junioren, ist Bekele mit Zwanzig schon jetzt zusammen
mit John Ngugi und Paul Tergat erfolgreichster Crossläufer aller Zeiten,
ein Ende allerdings ist schwerlich abzusehen.
Dabei liefen die Vorbereitungen für Kenenisa Bekele alles andere als
gut. Nach seinem Coup von Dublin wurde es still um den “neue
Haile“, weil Knie- und Achillessehnenbeschwerden keine Wettkämpfe
zuließen. Die Rückkehr ins Crossterrain mit fünf Siegen im
europäischen Cross-Circuit in Oeiras, Brüssel, Newcastle, Elgoibar
und Sevilla fiel eindrucksvoll aus. Bei den äthiopischen Trails auf der
Pferderennbahn Jan Meda in Addis Abeba musste er Anfang März wegen einer
Lebensmittelvergiftung (manche sprechen sogar von einer leichten Form von
Typhus) passen. Trotz seiner jungen Jahre ist Kenenisa Bekele, der
übrigens aus Bekoji in der Region Arsi stammt, der unmittelbaren
Nachbarschaft von Olympiasiegerin Derartu Tulu, verletzungsanfällig.
Deshalb musste er bereits die WM 2001 in Edmonton und die Cross-WM 2000
streichen. Bei allem Ehrgeiz, seine Form auch auf der Bahn und natürlich
in Paris (“Ich werde 5000 m und 10 000 m laufen“) unter Beweis zu
stellen, interessiert gewiss ein mögliches Duell mit seinem Vorbild Haile
Gebrselassie. “Ihn muss ich nicht schlagen, sondern, wenn ich nahe genug
bei ihm laufen kann, dann werde ich auch eine gute Zeit erzielen!“
-wira