„Der Wiederanfang nach Sydney war sehr schwierig. Ich war psychisch am
Boden, aber meine Familie, meine Freunde und mein Trainer haben mir sehr
geholfen“, erzählt Hicham El Guerrouj nach seinem 3000-m-Sieg bei
den Hallen-Weltmeisterschaften in Lissabon. Verschwunden sind inzwischen auch
die Fotos aus dem Wohnzimmer des 26-jährigen Marokkaner. „Wenn ich
in mein Zimmer komme, dann möchte ich nicht mehr daran erinnert
werden“, erklärt Hicham El Guerrouj. Ein Foto zeigte den
Weltrekordler über 1500 m, die Meile und 2000 m, wie er seine bis vor
Sydney schwärzeste Stunde erlebte: Im olympischen 1500-m-Finale von
Atlanta war er 1996 just über das Bein seines damals schärfsten
Konkurrenten Noureddine Morceli (Algerien) gestolpert. Danach musste er vom
damaligen marokkanischen König Hassan II persönlich getröstet
werden, um wieder auf die Beine zu kommen. Fortan war jenes Foto knapp vier
Jahre lang die große Motivation für Hicham El Guerrouj, es besser zu
machen. Doch nach Sydney gab es neues Foto: es zeigte, wie der Kenianer Noah
Ngeny knapp vor ihm ins Ziel lief. Für Hicham El Guerroj war eine Welt
zusammengebrochen. Zwischen den Spielen und schon vor Atlanta hatte er seine
Strecke dominiert. Von 46 Rennen über 1500 m verlor er nur zwei –
die olympischen Finals. „Jetzt konnte ich die schlechten Souvenirs nicht
mehr sehen, deswegen gibt es sie nicht mehr.“
Nach den Olympischen Spielen reichten Hicham El Guerrouj 35 Tage Urlaub
nicht, um sein Trauma zu verarbeiten. „Es war so schwer, dass ich an
manchen Tagen gar nicht zum Training gegangen bin.“ Erst nach gut drei
Monaten hatte er sich erholt. „Anfang Januar fühlte ich, dass meine
Form langsam zurück kommt, und dann war auch meine Motivation wieder
da“, erklärt Hicham El Guerrouj, der vor der Hallen-WM nur zwei
Rennen gelaufen war. In Gent hatte er die zwei Meilen gewonnen und in
Liévin die 1500 m, bevor er nun in Lissabon erstmals über 3000 m
zur Goldmedaille lief. „Für mich zählte hier nur der WM-Titel.
Das größte Problem war die psychologische Last, der Welt zu zeigen,
dass Hicham El Guerrouj noch lebt“, sagt der Marokkaner, der ebenso wie
die anderen Leichtathleten seines Lands von der Förderung des
Königshauses profitiert. „Der neue König unterstützt uns
genauso wie der alte, er ist ebenso Leichtathletik-Fan", hatte Aziz
Daouda, Manager der marokkanischen Läufer, über König Mohammed
VI gesagt und hinzugefügt: "Wir haben in Marokko keine Sponsoren
für die Leichtathletik, aber dafür haben wir den König."
Als Anerkennung für die Erfolge, pflegt der Monarch seinem Sportstar Land
zu schenken. Das führte nach den Olympischen Spielen jedoch dazu, dass
nicht mehr alle Landsleute Hicham El Guerrouj verehren. Farmern war jenes Land
weggenommen worden, das der Silbermedaillengewinner in der Nähe seines
Heimatortes Berkane geschenkt bekam. El Guerrouj bereichere sich auf Kosten der
Armen, kritisierte ein Gewerkschaftssprecher. Doch der Läufer entgegnete,
er könne ein Geschenk des Königs nicht ablehnen.
Mit seinen fünf WM-Siegen und einer Reihe von Weltrekorden sowie
etlichen Grand-Prix-Erfolgen dürfte Hicham El Guerrouj längst ein
Multimillionär sein. Doch trotzdem hat er noch nicht genug. In einem
Interview sagte der Läufer: „Ich bin nicht zufrieden damit, dass die
IAAF das Preisgeld für die Sieger bei der Hallen-WM reduziert hat. Wenn
sich daran nichts ändert, dann werde ich in Zukunft hier nicht mehr
starten!“ Es geht um 10.000 Dollar, für El Guerrouj also eine Art
Trinkgeld. Der Leichtathletik-Weltverband hatte die Siegprämie für
Platz eins von 50.000 auf 40.000 Dollar reduziert und dafür erstmals auch
für die Ränge vier bis sechs Gelder ausgeschüttet. Diese
Plätze liegen freilich außerhalb der Vorstellungskraft eines Hicham
El Guerrouj.
Weil das für ihn wertlose Silber von Sydney nicht seine letzte Medaille
über die 1500-m-Strecke sein soll, hat Marokkos Läuferstar seine
Pläne geändert. „Bei der WM in Edmonton will ich noch einmal
über 1500 Meter antreten. Nur wenn sich der Zeitplan noch ändert und
dadurch ein Start über 5000 m möglich sein könnte, würde
ich mir den Doppelstart überlegen“, sagt Hicham El Guerrouj, der
danach in Zürich den 5000-m-Weltrekord von Haile Gebrselassie
(Äthiopien/12:39,36) brechen möchte. „Das wird dann auch meine
Strecke in Athen 2004 sein.“ Insofern hätten die olympischen
Erinnerungsfotos von den 1500-m-Rennen sowieso keinen Wert mehr.