In Nairobi fällt am kommenden Sonntag die Entscheidung, welche Stadt nach
dem Ausfall Londons die Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2005 austragen wird.
Das Council des Welt-Leichtathletik-Verbandes IAAF hat die Wahl zwischen sechs
europäischen Metropolen: Berlin, Brüssel, Budapest, Helsinki, Moskau
und Rom. „Gewinnen wird die Stadt, die die besten Bedingungen
bietet“, schrieb IAAF-Generalsekretär Istvan Gyulai kürzlich im
IAAF-Magazin.
„Was ich mit absoluter Überzeugung sagen kann“, so der
ungarische Generalsekretär Istavn Gyulai weiter, „ist, dass diese
Entscheidung so objektiv wie möglich gefällt wird.“ Das muss in
der Tat im Interesse der IAAF sein, schließlich ist für den
Welt-Verband ein Erfolg dieser Titelkämpfe ungeheuer wichtig.
Objektive Fakten sollen also zählen. Und so darf man gespannt sein, ob
sich das IAAF-Council zum Beispiel nach dem Londoner Rückzug erneut auf
eine Bewerbung einlässt, die einen Neu- beziehungsweise Umbau des Stadions
erst nach der Entscheidung noch vorsieht. Das Risiko erscheint angesichts des
kurzen Zeitraumes von nur gut drei Jahren recht hoch. Dieser Punkt müsste
für die Berliner Bewerbung sprechen. Hier steht in rund zweieinhalb Jahren
das dann wohl modernste Leichtathletik-Stadion weltweit. Und auch Trainings-
und Aufwärmstadien müssen nicht erst später gebaut werden.
London hatte ursprünglich den Zuschlag für die WM 2005 bekommen,
um die sich eigentlich auch Berlin bewerben wollte. Doch aufgrund eines
Versäumnisses verpasste man damals die Deadline für die Bewerbung.
Einziger weiterer Bewerber war Melbourne. Die Engländer bekamen die WM,
während Berlin empfohlen wurde, sich für ein späteres WM-Jahr zu
bewerben. Lange suchten die Londoner nach einem geeigneten Stadion,
schließlich wollten sie im Nordosten der Stadt eine neue
Leichtathletik-Arena mit 43.000 Zuschauerplätzen bauen. Doch im
vergangenen Oktober ließ die britische Regierung das Projekt fallen. Es
wurde mit Kosten zwischen 150 und 180 Millionen Euro für zu teuer
befunden.
Die Berliner waren nach dem Londoner Aus die ersten, die eine Bewerbung
ankündigten. Während Brüssel, Budapest, Rom, Moskau und Helsinki
hinzukamen, verzichteten die Australier, da sie sich auf eine Bewerbung der
Stadt Perth für 2007 konzentrieren wollen. Gegen München und
Stuttgart setzten sich die Berliner in einer nationalen Entscheidung am 15.
Februar in Sindelfingen durch.
Die Wahl des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) dürfte auch in
internationaler Hinsicht richtig gewesen sein. Denn Berlin (1987 gegen Tokio im
Rennen um die WM 1991 unterlegen, im Vorfeld von 1993 zu Gunsten von Stuttgart
verzichtet) ist spätestens seit den Weltmeisterschaften in Sevilla 1999
als potenzieller Austragungsort bei der IAAF im Gespräch. In seiner
eigenmächtigen Art hatte der zwischenzeitlich verstorbene
IAAF-Präsident Primo Nebiolo damals seine persönliche Reihenfolge
festgelegt: Paris, London, Tokio, Berlin. Paris und London bekamen die WM,
Tokio und Berlin blieben im Gespräch – auch unter dem neuen
IAAF-Präsidenten Lamine Diack. Es ist erst eineinhalb Jahre her, da gab
der Senegalese gegenüber Leichtathletik im Rahmen des ISTAF ein Interview,
in dem er unter anderem sagte: „Für 2009 sehe ich kein Problem
für Berlin. Wir wären froh, wenn hier in Berlin die
Weltmeisterschaften stattfinden könnten. Ich habe schon mit dem
Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen darüber gesprochen. Ich
bin froh, dass die Laufbahn im Olympiastadion erhalten bleibt.“
Das Stadion ist der große Pluspunkt der Berliner Bewerbung. Eine
unterirdische Aufwärmhalle und eine Sprintgerade sind zwei Beispiele
für die topmoderne Arena, die 76.065 überdachte Sitzplätze haben
wird. Berlin überzeugt aber auch mit sehr guter Infrastruktur. Die
Hotelkapazitäten sind hervorragend, und für den IAAF-Kongress bietet
sich das Internationale Congress-Centrum (ICC) an.
Nach der Inspektion durch die IAAF soll die siebenköpfige Kommission,
die angeführt wurde von Vizepräsident Dapeng Lou (China), Berlin sehr
beeindruckt verlassen haben. „Wir haben Fakten sprechen lassen. Mir
fällt nichts ein, was besser hätte laufen können“, sagte
DLV-Generalsekretär Frank Hensel. Empfangen wurde die Delegation auch von
Bundeskanzler Gerhard Schröder. „Ich wünsche Ihnen eine weise
Entscheidung. Wie ich mir diese wünsche, können Sie sich
vorstellen“, sagte der Bundeskanzler zu den Vertretern der IAAF.
Einiges kann jetzt noch von der 20-minütigen Präsentation am
Sonntag in Nairobi abhängen. Der Videofilm war letzte Woche noch in
Vorbereitung. Berlin hat leichtathletisch sehr viel in die Waagschale zu
werfen. Ein ISTAF mit allen Stars der letzten Jahrzehnte – von Carl Lewis
bis Marion Jones. Einen Sergej Bubka, der über mehrere Jahre hinweg in
Berlin wohnte, oder einen Marathon, bei dem zuletzt Naoko Takahashi als erste
Frau unter 2:20 Stunden lief. Erst am vergangenen Sonntag beteiligten sich
über 14.000 Athleten beim Halbmarathon. Neben Christian Schenk, Heike
Drechsler, Ulrike Meyfarth und DLV-Präsident Clemens Prokop wird Berlins
Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit in Nairobi bei der
Präsentation auftreten. Ein hoher Vertreter der Bundesregierung (Innen-,
Außenminister oder Kanzler) war nicht abkömmlich. Das könnte
ein Nachteil sein, weil hier mit Offensiven einiger Konkurrenten zu rechnen
ist. Budapest und Helsinki werden politisch stark vertreten sein – aber
immerhin soll sich Gerhard Schröder im Video für Berlin stark
machen.
Optimistisch, aber keinesfalls siegessicher reist die deutsche Delegation am
Freitag nach Nairobi. Überraschungen sind nie ausgeschlossen. Und eine
haben die Ungarn bereits angekündigt. „Die internationale
Leichtathletik-Familie wird stark profitieren“, erklärten die
Vertreter Budapests im IAAF-Magazin, „wenn die WM in Ungarn stattfindet
– überraschende Details werden später bekannt gegeben!“
Was immer das heißen mag. Wenn die objektiven Kriterien entscheiden, wird
Berlin sehr gute Chancen haben.
DIE BEWERBERSTÄDTE IM TEST
BERLIN
+ Umgebautes Stadion, gute Infrastruktur,
Zuverlässigkeit bei der Organisation von Großereignissen,
interessanter Wirtschaftsstandort, Top-Ereignisse ISTAF und Marathon, lange im
Gespräch als potenzielle Ausrichterstadt
- Personelle Besetzung bei Präsentation, evt. finanzielle Schwierigkeiten
des ISTAF
BRÜSSEL
+ Zentrum der europäischen Gemeinschaft, sehr erfolgreiches
Golden-League-Meeting, gutes Stadion, großes Zuschauer-Einzugsgebiet,
Belgien übernahm mit Ostende 2001 kurzfristig die Cross-WM von
Dublin
- Neben dem Stadion muss noch eine 400-m-Bahn als Aufwärmstadion gebaut
werden, evt. räumliche Nähe zum WM-Ausrichter 2003 Paris
BUDAPEST
+ Große politische Unterstützung der Bewerbung, Hallen-WM 1989 und
Cross-WM 1994 veranstaltet, Olympiabewerbung für 2012 im Hintergrund
- Stadion muss um- oder sogar neu gebaut werden (teilweise provisorische
Zustände bei EM 1998), evt. zeitnahe Ausrichtung der Hallen-WM 2004
HELSINKI
+ Erfahrung einer WM-Ausrichtung, besonders interessiertes und fachkundiges
Zuschauerpotenzial, hochkarätig besetztes Bewerbungskomitee, günstige
Lage des Stadions
- Stadion muss noch umgebaut werden
MOSKAU
+ Olympiastadion, Erfahrung bei Organisation von Großereignissen,
vorauss. große politische Unterstützung, Olympiabewerbung für
2012 im Hintergrund
- Grand-Prix-Finale 1998 kein Erfolg, Trainingsstätten müssen Instand
gesetzt werden
ROM
+ Europäische Kulturmetropole, Erfahrung einer WM-Ausrichtung,
Golden-League-Meeting, Olympiabewerbung für 2012 im Hintergrund
- Um- und Ausbau von Stadion und Trainingseinrichtungen nötig, evt.
Evangelisti-Skandal bei WM 1987, Golden-League-Meeting mit schwacher
Zuschauerresonanz