Jahrzehntelang blieb Kipchoge Keino unbehelligt. Aber als der omnipotente
kenianische Supersportfunktionär Charles Mukura von den
Olympiaveranstaltern in Sydney mit 50 000 Dollar bestochen wurde, und der ganze
Schwindel auch noch aufflog, schlug plötzlich wieder die Stunde des
Mannes, der bei den Spielen in Mexico-City 1968 und München 1972 je zwei
Gold- und Silbermedaillen gewann, über 1500 m und 3000 m Hindernis. Bis
dahin war er dem Leben eines Farmers nachgegangen, und als Vizepräsident
seines Nationalen Olympischen Komitees unterhielt er nur noch eine ferne
Erinnerung an seine glanzvollen Tage. Besonders fiel er als der
fleißigste Bettler im ostafrikanischen Land auf, auf dass die
Nationalmannschaften zu den Großereignissen fliegen konnten. Im
moralischen Super-Gau schlug dann seine Stunde, und auf einmal wurde die
Sportwelt auch sein großes Herz gewahr. Er wurde einstimmig zum neuen
Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees gewählt.
Für sein soziales Engagement wird Kipchoge, der laut Reisepass vor
knapp 63 Jahren "am Krämerladen Geborene" - er selbst
erzählte einmal, in Wahrheit sei er ja vier Jahre älter - am heutigen
Donnerstag in Paris vom Internationalen Komitee für Fair Play mit der
Willi-Daume-Plakette ausgezeichnet. "Das ist meine bis jetzt höchste
Ehrung," sagt er auf seiner Farm im Hochland. "Kofi Annan soll da
sein." Der Generalsekretär der Vereinten Nationen. Der Name Keino ist
jetzt in aller Munde. Erst im November hatte ihn der Internationale
Leichtathletik-Verband IAAF mit dem neu geschaffenen Primo-Nebiolo-Preis
geschmückt. In seiner Eigenschaft als "Legende". Seitdem auch
seine Haare grau geworden sind, macht der ohne Zweifel beliebteste Bürger
Kenias fürwahr eine späte zweite Karriere. Richtig wiederentdeckt hat
ihn der heutige Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees
(IOC), Thomas Bach, bei einem Besuch vor ein paar Jahren. Die beiden hatten
lange Zeit zusammen in der IOC-Athleten-Kommission gesessen. Aber: "Kip
hat mir nie erzählt, was er da aufgebaut hat."
Das ist ein eindrucksvolles Lebenswerk. Im Augenblick ziehen seine Frau
Phyllis und er 92 Waisenkinder auf. Alle sind adoptiert. "Wir sind die
größte Familie Kenias," sagt er gern. Das Engagement des
Ehepaares, das selbst sieben Kinder hat, begann schon Mitte der siebziger
Jahre, und allein sieben der Kinder schlossen mittlerweile ein
Universitätsstudium erfolgreich ab. Bachs Besuch brachte endlich eine
gewisse Planungssicherheit in das soziale Unternehmen. Der
IOC-Solidaritätsfonds, die Firma Daimler-Benz und der Deutsche Giro- und
Sparkassenverband griffen den Keinos mit fünf- und sechsstelligen
Dollarspenden unter die Arme.
Die Keinos besitzen zwar drei Farmen rund um die Provinzstadt Eldoret im
Nordosten Kenias, aber trotzdem hatten sie immer von der Hand in den Mund
gelebt, und sie tun es immer noch. Allein die anfallenden Schulgebühren
verschlingen eine Menge Geld. Inzwischen ist die Kipkeino Primary School
eingerichtet worden. Weil wohlhabendere Eltern den Unterhalt finanzieren,
können die Waisen umsonst unterrichtet werden. Die Schule zählte von
Anfang an zu den besten des Distrikts. Sogar 25 Computer, die Spende einer
US-amerikanischen Firma, gehören zur Ausstattung.
Keinos Farmen, besonders die älteste, "Kazi Mingi", was
"viel Arbeit" bedeutet, sehen jetzt viele Besucher. Der Name
schmückt auch sie. In diesen Tagen hat sich der britische Botschafter
angesagt, der deutsche Botschafter zählt zum Freundeskreis, im vorigen
April machte der gesamte IAAF-Rat seine Aufwartung, Jacques Rogge, der neue
IOC-Präsident, will im Frühjahr vorbei schauen. Seit über zwei
Jahren ist der Gastgeber auch IOC-Mitglied. Bach und der holländische
Prinz Willem bürgten für ihn. "Mir zitterten die Knie, als ich
gewählt wurde. Ich weiß doch, wo ich her komme." Ja, als
Jugendlicher, seine Mutter starb im Kindbett, hob er Latrinen und Brunnen aus,
mit zwölf durfte er eine Schule besuchen, mit 16 musste er sie wieder
verlassen, kein Geld. Erst als sein Lauftalent ihn in den Polizeidienst
führte, hatte er die erste Stufe der Karriereleiter erwischt. Kip, wie ihn
alle Welt ruft, hat aus seinem Leben etwas gemacht. In den wieder
häufigeren Interviews sagt er garantiert zwei Sätze in die
Mikrophone: "Wir teilen, was wir haben." Und: "Wir kommen mit
nichts, und wir gehen mit nichts."
Von Robert Hartmann